nieder, das entrüstet aufgeblickt. Von der Rede kamen nur die Worte heraus: "Meine Mutter --"
"Das Wort wird Dir wohl täglich schwerer. Aber so lange Du Dich bewogen findest in diesem Verhältniß zu bleiben, ist es doch gut, daß Du Dich vor den Andern bezwingst, Liebe gegen mich zu zeigen."
"Meine Mutter, Sie martern mich."
"Das ist unser aller Loos. Wir alle werden gemartert von den Verhältnissen, vom Urtheil der Menschen; bis wir gleichgültig werden, sagen die Leute. Das ist nicht wahr, man wird nicht gleich¬ gültig, wenn man sich nicht schon aufgegeben hat. Nur wer so weit ist, daß er alle Hoffnung fahren ließ, nimmt die Tritte und spitzen Stiche ruhig hin. Wer sich noch fühlt, ruht nicht, bis er Andre wieder martern kann. Sieh mich immerhin verwundert an; es ist so, es ist das Gesetz der Welt."
"Das Gesetz der Rache!"
"Nenne es, wie Du willst. Es giebt nur zwei Gattungen Wesen, Unterdrücker und Unterdrückte. Wo Du hinsiehst, so ist es. Das ist eine Phantasie aus der Vorzeit, daß es freie Menschen gäbe; sie sind von unserer Cultur so ausgerottet wie die wilden Thiergeschlechter. Denn die noch da sind, sind doch schon unterworfene Geschöpfe. Der Mensch hegt und erhält sie, um sie zu fangen, schießen, je wie es ihm beliebt. Der Hirsch, der Hase, ist so sein Eigenthum, daß er schon unverbrüchliche Gesetze
nieder, das entrüſtet aufgeblickt. Von der Rede kamen nur die Worte heraus: „Meine Mutter —“
„Das Wort wird Dir wohl täglich ſchwerer. Aber ſo lange Du Dich bewogen findeſt in dieſem Verhältniß zu bleiben, iſt es doch gut, daß Du Dich vor den Andern bezwingſt, Liebe gegen mich zu zeigen.“
„Meine Mutter, Sie martern mich.“
„Das iſt unſer aller Loos. Wir alle werden gemartert von den Verhältniſſen, vom Urtheil der Menſchen; bis wir gleichgültig werden, ſagen die Leute. Das iſt nicht wahr, man wird nicht gleich¬ gültig, wenn man ſich nicht ſchon aufgegeben hat. Nur wer ſo weit iſt, daß er alle Hoffnung fahren ließ, nimmt die Tritte und ſpitzen Stiche ruhig hin. Wer ſich noch fühlt, ruht nicht, bis er Andre wieder martern kann. Sieh mich immerhin verwundert an; es iſt ſo, es iſt das Geſetz der Welt.“
„Das Geſetz der Rache!“
„Nenne es, wie Du willſt. Es giebt nur zwei Gattungen Weſen, Unterdrücker und Unterdrückte. Wo Du hinſiehſt, ſo iſt es. Das iſt eine Phantaſie aus der Vorzeit, daß es freie Menſchen gäbe; ſie ſind von unſerer Cultur ſo ausgerottet wie die wilden Thiergeſchlechter. Denn die noch da ſind, ſind doch ſchon unterworfene Geſchöpfe. Der Menſch hegt und erhält ſie, um ſie zu fangen, ſchießen, je wie es ihm beliebt. Der Hirſch, der Haſe, iſt ſo ſein Eigenthum, daß er ſchon unverbrüchliche Geſetze
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nieder, das entrüſtet aufgeblickt. Von der Rede
kamen nur die Worte heraus: „Meine Mutter —“
„Das Wort wird Dir wohl täglich ſchwerer.
Aber ſo lange Du Dich bewogen findeſt in dieſem
Verhältniß zu bleiben, iſt es doch gut, daß Du Dich
vor den Andern bezwingſt, Liebe gegen mich zu
zeigen.“
„Meine Mutter, Sie martern mich.“
„Das iſt unſer aller Loos. Wir alle werden
gemartert von den Verhältniſſen, vom Urtheil der
Menſchen; bis wir gleichgültig werden, ſagen die
Leute. Das iſt nicht wahr, man wird nicht gleich¬
gültig, wenn man ſich nicht ſchon aufgegeben hat.
Nur wer ſo weit iſt, daß er alle Hoffnung fahren
ließ, nimmt die Tritte und ſpitzen Stiche ruhig hin.
Wer ſich noch fühlt, ruht nicht, bis er Andre wieder
martern kann. Sieh mich immerhin verwundert an;
es iſt ſo, es iſt das Geſetz der Welt.“
„Das Geſetz der Rache!“
„Nenne es, wie Du willſt. Es giebt nur zwei
Gattungen Weſen, Unterdrücker und Unterdrückte.
Wo Du hinſiehſt, ſo iſt es. Das iſt eine Phantaſie
aus der Vorzeit, daß es freie Menſchen gäbe; ſie
ſind von unſerer Cultur ſo ausgerottet wie die
wilden Thiergeſchlechter. Denn die noch da ſind,
ſind doch ſchon unterworfene Geſchöpfe. Der Menſch
hegt und erhält ſie, um ſie zu fangen, ſchießen, je
wie es ihm beliebt. Der Hirſch, der Haſe, iſt ſo
ſein Eigenthum, daß er ſchon unverbrüchliche Geſetze
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 3. Berlin, 1852, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe03_1852/220>, abgerufen am 08.07.2024.
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