werden könnte. Nur sollte der Rittmeister davon aus¬ genommen sein, denn sie hätte einen Eid darauf abge¬ legt, daß er keine Strafe des Weltgerichts verdiente. Aber indem sie mehr auf die Musik als den Inhalt der Rede gehört, waren doch einzelne Töne in ihre Seele gedrungen, die sie jetzt nachdenklich machten. Sie saß in die Wagenecke zurückgelehnt und klärte vergeblich mit ihrem Taschentuch die Fensterscheibe vom warmen Hauch, der sie immer wieder von neuem beschlug. Die Fürstin meinte, sie wollte ihre Thränen vor ihr verbergen, aber die Baronin suchte nach einem Licht. Von draußen kam es nicht. Es war das bleierne Grau des Novembermorgens, das unerquicklich durch die Kiefern schien.
Die Fürstin hatte erreicht was sie vorhin wollte, sie hatte die Baronin zum Schweigen ge¬ bracht; aber die stumme Sprache der Seufzer ward ihr noch peinlicher als die vehementen Liebesklagen, von denen sie sich debarrassirt. Sie drückte sanft die Hand ihrer Begleiterin, sie bedauerte, wenn ihre Phantasieen einen zu tiefen Eindruck auf ihr Gemüth gemacht, auch sei der Krieg ja noch nicht bestimmt erklärt, und wenn er ausbreche, wache ein Auge dort oben über alle, und wisse die Schuldigen von den Unschuldigen zu unterscheiden. "Nur die Schuldigen trifft sein Zorn! Er richtet nicht wie ein menschlicher Richter, der nur auf die offenkundigen Thaten sieht, er prüft die Nieren und sieht das Herz. Mancher, der uns als großer Sünder erscheint, geht vor ihm
werden könnte. Nur ſollte der Rittmeiſter davon aus¬ genommen ſein, denn ſie hätte einen Eid darauf abge¬ legt, daß er keine Strafe des Weltgerichts verdiente. Aber indem ſie mehr auf die Muſik als den Inhalt der Rede gehört, waren doch einzelne Töne in ihre Seele gedrungen, die ſie jetzt nachdenklich machten. Sie ſaß in die Wagenecke zurückgelehnt und klärte vergeblich mit ihrem Taſchentuch die Fenſterſcheibe vom warmen Hauch, der ſie immer wieder von neuem beſchlug. Die Fürſtin meinte, ſie wollte ihre Thränen vor ihr verbergen, aber die Baronin ſuchte nach einem Licht. Von draußen kam es nicht. Es war das bleierne Grau des Novembermorgens, das unerquicklich durch die Kiefern ſchien.
Die Fürſtin hatte erreicht was ſie vorhin wollte, ſie hatte die Baronin zum Schweigen ge¬ bracht; aber die ſtumme Sprache der Seufzer ward ihr noch peinlicher als die vehementen Liebesklagen, von denen ſie ſich debarraſſirt. Sie drückte ſanft die Hand ihrer Begleiterin, ſie bedauerte, wenn ihre Phantaſieen einen zu tiefen Eindruck auf ihr Gemüth gemacht, auch ſei der Krieg ja noch nicht beſtimmt erklärt, und wenn er ausbreche, wache ein Auge dort oben über alle, und wiſſe die Schuldigen von den Unſchuldigen zu unterſcheiden. „Nur die Schuldigen trifft ſein Zorn! Er richtet nicht wie ein menſchlicher Richter, der nur auf die offenkundigen Thaten ſieht, er prüft die Nieren und ſieht das Herz. Mancher, der uns als großer Sünder erſcheint, geht vor ihm
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0185"n="175"/>
werden könnte. Nur ſollte der Rittmeiſter davon aus¬<lb/>
genommen ſein, denn ſie hätte einen Eid darauf abge¬<lb/>
legt, daß er keine Strafe des Weltgerichts verdiente.<lb/>
Aber indem ſie mehr auf die Muſik als den Inhalt<lb/>
der Rede gehört, waren doch einzelne Töne in ihre<lb/>
Seele gedrungen, die ſie jetzt nachdenklich machten.<lb/>
Sie ſaß in die Wagenecke zurückgelehnt und klärte<lb/>
vergeblich mit ihrem Taſchentuch die Fenſterſcheibe<lb/>
vom warmen Hauch, der ſie immer wieder von<lb/>
neuem beſchlug. Die Fürſtin meinte, ſie wollte ihre<lb/>
Thränen vor ihr verbergen, aber die Baronin ſuchte<lb/>
nach einem Licht. Von draußen kam es nicht. Es<lb/>
war das bleierne Grau des Novembermorgens, das<lb/>
unerquicklich durch die Kiefern ſchien.</p><lb/><p>Die Fürſtin hatte erreicht was ſie vorhin<lb/>
wollte, ſie hatte die Baronin zum Schweigen ge¬<lb/>
bracht; aber die ſtumme Sprache der Seufzer ward<lb/>
ihr noch peinlicher als die vehementen Liebesklagen,<lb/>
von denen ſie ſich debarraſſirt. Sie drückte ſanft die<lb/>
Hand ihrer Begleiterin, ſie bedauerte, wenn ihre<lb/>
Phantaſieen einen zu tiefen Eindruck auf ihr Gemüth<lb/>
gemacht, auch ſei der Krieg ja noch nicht beſtimmt<lb/>
erklärt, und wenn er ausbreche, wache ein Auge<lb/>
dort oben über alle, und wiſſe die Schuldigen von<lb/>
den Unſchuldigen zu unterſcheiden. „Nur die Schuldigen<lb/>
trifft ſein Zorn! Er richtet nicht wie ein menſchlicher<lb/>
Richter, der nur auf die offenkundigen Thaten ſieht,<lb/>
er prüft die Nieren und ſieht das Herz. Mancher,<lb/>
der <hirendition="#g">uns</hi> als großer Sünder erſcheint, geht vor ihm<lb/></p></div></body></text></TEI>
[175/0185]
werden könnte. Nur ſollte der Rittmeiſter davon aus¬
genommen ſein, denn ſie hätte einen Eid darauf abge¬
legt, daß er keine Strafe des Weltgerichts verdiente.
Aber indem ſie mehr auf die Muſik als den Inhalt
der Rede gehört, waren doch einzelne Töne in ihre
Seele gedrungen, die ſie jetzt nachdenklich machten.
Sie ſaß in die Wagenecke zurückgelehnt und klärte
vergeblich mit ihrem Taſchentuch die Fenſterſcheibe
vom warmen Hauch, der ſie immer wieder von
neuem beſchlug. Die Fürſtin meinte, ſie wollte ihre
Thränen vor ihr verbergen, aber die Baronin ſuchte
nach einem Licht. Von draußen kam es nicht. Es
war das bleierne Grau des Novembermorgens, das
unerquicklich durch die Kiefern ſchien.
Die Fürſtin hatte erreicht was ſie vorhin
wollte, ſie hatte die Baronin zum Schweigen ge¬
bracht; aber die ſtumme Sprache der Seufzer ward
ihr noch peinlicher als die vehementen Liebesklagen,
von denen ſie ſich debarraſſirt. Sie drückte ſanft die
Hand ihrer Begleiterin, ſie bedauerte, wenn ihre
Phantaſieen einen zu tiefen Eindruck auf ihr Gemüth
gemacht, auch ſei der Krieg ja noch nicht beſtimmt
erklärt, und wenn er ausbreche, wache ein Auge
dort oben über alle, und wiſſe die Schuldigen von
den Unſchuldigen zu unterſcheiden. „Nur die Schuldigen
trifft ſein Zorn! Er richtet nicht wie ein menſchlicher
Richter, der nur auf die offenkundigen Thaten ſieht,
er prüft die Nieren und ſieht das Herz. Mancher,
der uns als großer Sünder erſcheint, geht vor ihm
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 3. Berlin, 1852, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe03_1852/185>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.