Man thäte der Geheimräthin Unrecht, wenn man glaubte, daß sie mit dem langen Eingang nur eine neue Dankopferung bezweckt habe. Im Gegentheil, sie liebte nicht Affectscenen, wo das Herz auf dem Prä¬ sentirbrett liegt.
"Ich habe nichts für Dich gethan damals, sprach sie mit einer Ruhe, welche die Aufwallung entschie¬ den zurückwies. Du wurdest nur dadurch gerettet, weil der Zufall Dich in mein Haus führte. Das Deiner Eltern ist gewiß ein sehr ehrbares, aber Dein Vater und Deine Mutter haben wenig Umgang mit der Gesellschaft. Wenn sie Dich auch noch so behütet und eingeschlossen, Du hättest doch einen Flecken be¬ halten. Die Dich gekannt, wußten freilich, was Du warst, die andern aber hätten gedacht: schade um das arme Mädchen, sie lebt nun so zurückgezogen, führt sich so sittsam auf, und thut alles was sie kann den Verstoß wieder gut zu machen, sie ist auch vielleicht ohne eigne Schuld, aber sie war doch ein Mal in dem Hause, und das vergißt man nicht."
"Aber, Mama, warum nennen Sie es Zufall? Es war Ihr edles Herz, Ihre Großmuth, die mich aufnahm."
"Es war der ausgezeichnete Mann, den der Zufall Dich finden ließ. Mit bewunderungswürdigem Scharfsinn erkannte er im Augenblick die ganze Lage. Hier ist nichts zu vertuschen und durch Flicken nichts zu retten, sagte er. Was verloren ist, muß man ver¬
II. 4
„Wenn Sie nicht meiner ſich erbarmt hätten.“
Man thäte der Geheimräthin Unrecht, wenn man glaubte, daß ſie mit dem langen Eingang nur eine neue Dankopferung bezweckt habe. Im Gegentheil, ſie liebte nicht Affectſcenen, wo das Herz auf dem Prä¬ ſentirbrett liegt.
„Ich habe nichts für Dich gethan damals, ſprach ſie mit einer Ruhe, welche die Aufwallung entſchie¬ den zurückwies. Du wurdeſt nur dadurch gerettet, weil der Zufall Dich in mein Haus führte. Das Deiner Eltern iſt gewiß ein ſehr ehrbares, aber Dein Vater und Deine Mutter haben wenig Umgang mit der Geſellſchaft. Wenn ſie Dich auch noch ſo behütet und eingeſchloſſen, Du hätteſt doch einen Flecken be¬ halten. Die Dich gekannt, wußten freilich, was Du warſt, die andern aber hätten gedacht: ſchade um das arme Mädchen, ſie lebt nun ſo zurückgezogen, führt ſich ſo ſittſam auf, und thut alles was ſie kann den Verſtoß wieder gut zu machen, ſie iſt auch vielleicht ohne eigne Schuld, aber ſie war doch ein Mal in dem Hauſe, und das vergißt man nicht.“
„Aber, Mama, warum nennen Sie es Zufall? Es war Ihr edles Herz, Ihre Großmuth, die mich aufnahm.“
„Es war der ausgezeichnete Mann, den der Zufall Dich finden ließ. Mit bewunderungswürdigem Scharfſinn erkannte er im Augenblick die ganze Lage. Hier iſt nichts zu vertuſchen und durch Flicken nichts zu retten, ſagte er. Was verloren iſt, muß man ver¬
II. 4
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„Wenn Sie nicht meiner ſich erbarmt hätten.“
Man thäte der Geheimräthin Unrecht, wenn man
glaubte, daß ſie mit dem langen Eingang nur eine
neue Dankopferung bezweckt habe. Im Gegentheil, ſie
liebte nicht Affectſcenen, wo das Herz auf dem Prä¬
ſentirbrett liegt.
„Ich habe nichts für Dich gethan damals, ſprach
ſie mit einer Ruhe, welche die Aufwallung entſchie¬
den zurückwies. Du wurdeſt nur dadurch gerettet,
weil der Zufall Dich in mein Haus führte. Das
Deiner Eltern iſt gewiß ein ſehr ehrbares, aber Dein
Vater und Deine Mutter haben wenig Umgang mit
der Geſellſchaft. Wenn ſie Dich auch noch ſo behütet
und eingeſchloſſen, Du hätteſt doch einen Flecken be¬
halten. Die Dich gekannt, wußten freilich, was Du
warſt, die andern aber hätten gedacht: ſchade um das
arme Mädchen, ſie lebt nun ſo zurückgezogen, führt
ſich ſo ſittſam auf, und thut alles was ſie kann den
Verſtoß wieder gut zu machen, ſie iſt auch vielleicht
ohne eigne Schuld, aber ſie war doch ein Mal in
dem Hauſe, und das vergißt man nicht.“
„Aber, Mama, warum nennen Sie es Zufall?
Es war Ihr edles Herz, Ihre Großmuth, die mich
aufnahm.“
„Es war der ausgezeichnete Mann, den der
Zufall Dich finden ließ. Mit bewunderungswürdigem
Scharfſinn erkannte er im Augenblick die ganze Lage.
Hier iſt nichts zu vertuſchen und durch Flicken nichts
zu retten, ſagte er. Was verloren iſt, muß man ver¬
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 2. Berlin, 1852, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe02_1852/59>, abgerufen am 23.11.2024.
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