Sie schlug die Augen nicht nieder und wandte den Blick nicht ab. Sie fühlte auch kein Mitleid mit den armen Geschöpfen: Sie schlürfen des Lebens Gluth in vollen Zügen, aus einem Taumel in den andern gestürzt, kaum dazwischen erwachend, bis sie verwelken, und man sie fortwirft. Und das ist unser Aller Loos -- ob früher, ob später? Was kommt es drauf an. Wer nur sagen kann: er hat sein Leben genossen!
Sie recitirte in ihrem Selbstgespräch die Verse des Breslauer Dichters Bürde, der, damals in Ber¬ lin, seine Uebersetzung des Milton herausgab. Dichter sorgen am väterlichsten für ihre Gedichte, wenn sie sich selbst in der Societät zeigen. Um der Väter willen nimmt man sich der Kinder an. Die Geheim¬ räthin Lupinus würde die Verse:
Ach es sind die gleichen Todesloose,
Die das Schicksal allen Wesen zieht!
Früher nur entblättert sich die Rose,
Später nur verwittert der Granit,
die sie zweimal mit Empfindung wiederholte, so wenig gekannt haben, als die Mehrzahl unserer Leser sie kennen wird, wenn sie nicht die Bekanntschaft des Sekretair Bürde in den Gesellschaften gemacht hätte, wo der schlesische Minister, Graf Hoym, in dessen Ge¬ folge er angekommen, ihm einen Ehrenplatz verschaffte.
Das Komödienhaus war nicht gefüllt. Die Ge¬ heimräthin saß allein in ihrer Loge. Ihr schien das Haus dunkel. Es war nicht dunkler als ge¬
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Sie ſchlug die Augen nicht nieder und wandte den Blick nicht ab. Sie fühlte auch kein Mitleid mit den armen Geſchöpfen: Sie ſchlürfen des Lebens Gluth in vollen Zügen, aus einem Taumel in den andern geſtürzt, kaum dazwiſchen erwachend, bis ſie verwelken, und man ſie fortwirft. Und das iſt unſer Aller Loos — ob früher, ob ſpäter? Was kommt es drauf an. Wer nur ſagen kann: er hat ſein Leben genoſſen!
Sie recitirte in ihrem Selbſtgeſpräch die Verſe des Breslauer Dichters Bürde, der, damals in Ber¬ lin, ſeine Ueberſetzung des Milton herausgab. Dichter ſorgen am väterlichſten für ihre Gedichte, wenn ſie ſich ſelbſt in der Societät zeigen. Um der Väter willen nimmt man ſich der Kinder an. Die Geheim¬ räthin Lupinus würde die Verſe:
Ach es ſind die gleichen Todeslooſe,
Die das Schickſal allen Weſen zieht!
Früher nur entblättert ſich die Roſe,
Später nur verwittert der Granit,
die ſie zweimal mit Empfindung wiederholte, ſo wenig gekannt haben, als die Mehrzahl unſerer Leſer ſie kennen wird, wenn ſie nicht die Bekanntſchaft des Sekretair Bürde in den Geſellſchaften gemacht hätte, wo der ſchleſiſche Miniſter, Graf Hoym, in deſſen Ge¬ folge er angekommen, ihm einen Ehrenplatz verſchaffte.
Das Komödienhaus war nicht gefüllt. Die Ge¬ heimräthin ſaß allein in ihrer Loge. Ihr ſchien das Haus dunkel. Es war nicht dunkler als ge¬
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Sie ſchlug die Augen nicht nieder und wandte
den Blick nicht ab. Sie fühlte auch kein Mitleid mit
den armen Geſchöpfen: Sie ſchlürfen des Lebens
Gluth in vollen Zügen, aus einem Taumel in den
andern geſtürzt, kaum dazwiſchen erwachend, bis ſie
verwelken, und man ſie fortwirft. Und das iſt unſer
Aller Loos — ob früher, ob ſpäter? Was kommt
es drauf an. Wer nur ſagen kann: er hat ſein Leben
genoſſen!
Sie recitirte in ihrem Selbſtgeſpräch die Verſe
des Breslauer Dichters Bürde, der, damals in Ber¬
lin, ſeine Ueberſetzung des Milton herausgab. Dichter
ſorgen am väterlichſten für ihre Gedichte, wenn ſie
ſich ſelbſt in der Societät zeigen. Um der Väter
willen nimmt man ſich der Kinder an. Die Geheim¬
räthin Lupinus würde die Verſe:
Ach es ſind die gleichen Todeslooſe,
Die das Schickſal allen Weſen zieht!
Früher nur entblättert ſich die Roſe,
Später nur verwittert der Granit,
die ſie zweimal mit Empfindung wiederholte, ſo wenig
gekannt haben, als die Mehrzahl unſerer Leſer ſie
kennen wird, wenn ſie nicht die Bekanntſchaft des
Sekretair Bürde in den Geſellſchaften gemacht hätte,
wo der ſchleſiſche Miniſter, Graf Hoym, in deſſen Ge¬
folge er angekommen, ihm einen Ehrenplatz verſchaffte.
Das Komödienhaus war nicht gefüllt. Die Ge¬
heimräthin ſaß allein in ihrer Loge. Ihr ſchien
das Haus dunkel. Es war nicht dunkler als ge¬
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 1. Berlin, 1852, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe01_1852/49>, abgerufen am 16.02.2025.
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