Bald fährt Frau Brösicke vom Melken auf, denn ein seltsames Kikeriki schallt ihr aus der Wandluke. Wetter! Wo kommen denn die Hühner her! und als sie sich umwendet, blitzen ihr zwei wunderblaue Augen entgegen unter einer blonden Lockenfülle, und die kirschrothen Lippen öffnen sich, um zwei Reihen Perlenzähne zu zeigen und ein: "Angeführt mit Lösch¬ papier, Frau Brösicke!" ihr zuzurufen. "I so soll doch!" ruft die Bäuerin und läßt den Melkeimer fallen, aber ihre Ueberraschung ist keine unangenehme: "Ach die seelenhübsche Mamsell Adelheid vom Gensd'armen¬ markt!" Auf dem Hofe aber hat eine andere Ueber¬ raschung Platz gegriffen, die nicht so angenehmen Eindruck hinterläßt. Das Dienstmädchen hatte eben vom Schöpfbrunnen den vollen Eimer an die dur¬ stigen Lippen gesetzt, als eine heftige Ohrfeige, die aus der Luft zu schwirren schien, ihre brennenden Backen noch röther machte. Der Eimer schnellte aus ihrer Hand, und das Wasser, was sie nicht trinken sollte, überschüttete sie aus den Lüften. "Es geht doch nichts über die Unvernunft solcher Leute. Zu trin¬ ken, wenn sie erhitzt sind!" -- Das Mädchen weint, aber sie beklagt sich nicht. Der Hausherr hat das Recht. Auch die Hausfrau widerspricht nicht; nur flüstert sie ihrem Alten zu: "Alter! Solchen Leuten schadet es nicht. Das liebe Vieh trinkt auch, wenn es Lust hat und frägt nicht, ob's die Doctoren ver¬ boten haben."
Nun ist alles helle Thätigkeit inner und außer
Bald fährt Frau Bröſicke vom Melken auf, denn ein ſeltſames Kikeriki ſchallt ihr aus der Wandluke. Wetter! Wo kommen denn die Hühner her! und als ſie ſich umwendet, blitzen ihr zwei wunderblaue Augen entgegen unter einer blonden Lockenfülle, und die kirſchrothen Lippen öffnen ſich, um zwei Reihen Perlenzähne zu zeigen und ein: „Angeführt mit Löſch¬ papier, Frau Bröſicke!“ ihr zuzurufen. „I ſo ſoll doch!“ ruft die Bäuerin und läßt den Melkeimer fallen, aber ihre Ueberraſchung iſt keine unangenehme: „Ach die ſeelenhübſche Mamſell Adelheid vom Gensd'armen¬ markt!“ Auf dem Hofe aber hat eine andere Ueber¬ raſchung Platz gegriffen, die nicht ſo angenehmen Eindruck hinterläßt. Das Dienſtmädchen hatte eben vom Schöpfbrunnen den vollen Eimer an die dur¬ ſtigen Lippen geſetzt, als eine heftige Ohrfeige, die aus der Luft zu ſchwirren ſchien, ihre brennenden Backen noch röther machte. Der Eimer ſchnellte aus ihrer Hand, und das Waſſer, was ſie nicht trinken ſollte, überſchüttete ſie aus den Lüften. „Es geht doch nichts über die Unvernunft ſolcher Leute. Zu trin¬ ken, wenn ſie erhitzt ſind!“ — Das Mädchen weint, aber ſie beklagt ſich nicht. Der Hausherr hat das Recht. Auch die Hausfrau widerſpricht nicht; nur flüſtert ſie ihrem Alten zu: „Alter! Solchen Leuten ſchadet es nicht. Das liebe Vieh trinkt auch, wenn es Luſt hat und frägt nicht, ob's die Doctoren ver¬ boten haben.“
Nun iſt alles helle Thätigkeit inner und außer
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0136"n="122"/><p>Bald fährt Frau Bröſicke vom Melken auf, denn<lb/>
ein ſeltſames Kikeriki ſchallt ihr aus der Wandluke.<lb/>
Wetter! Wo kommen denn die Hühner her! und<lb/>
als ſie ſich umwendet, blitzen ihr zwei wunderblaue<lb/>
Augen entgegen unter einer blonden Lockenfülle, und<lb/>
die kirſchrothen Lippen öffnen ſich, um zwei Reihen<lb/>
Perlenzähne zu zeigen und ein: „Angeführt mit Löſch¬<lb/>
papier, Frau Bröſicke!“ ihr zuzurufen. „I ſo ſoll<lb/>
doch!“ ruft die Bäuerin und läßt den Melkeimer fallen,<lb/>
aber ihre Ueberraſchung iſt keine unangenehme: „Ach<lb/>
die ſeelenhübſche Mamſell Adelheid vom Gensd'armen¬<lb/>
markt!“ Auf dem Hofe aber hat eine andere Ueber¬<lb/>
raſchung Platz gegriffen, die nicht ſo angenehmen<lb/>
Eindruck hinterläßt. Das Dienſtmädchen hatte eben<lb/>
vom Schöpfbrunnen den vollen Eimer an die dur¬<lb/>ſtigen Lippen geſetzt, als eine heftige Ohrfeige, die<lb/>
aus der Luft zu ſchwirren ſchien, ihre brennenden<lb/>
Backen noch röther machte. Der Eimer ſchnellte aus<lb/>
ihrer Hand, und das Waſſer, was ſie nicht trinken<lb/>ſollte, überſchüttete ſie aus den Lüften. „Es geht<lb/>
doch nichts über die Unvernunft ſolcher Leute. Zu trin¬<lb/>
ken, wenn ſie erhitzt ſind!“— Das Mädchen weint,<lb/>
aber ſie beklagt ſich nicht. Der Hausherr hat das<lb/>
Recht. Auch die Hausfrau widerſpricht nicht; nur<lb/>
flüſtert ſie ihrem Alten zu: „Alter! Solchen Leuten<lb/>ſchadet es nicht. Das liebe Vieh trinkt auch, wenn<lb/>
es Luſt hat und frägt nicht, ob's die Doctoren ver¬<lb/>
boten haben.“</p><lb/><p>Nun iſt alles helle Thätigkeit inner und außer<lb/></p></div></body></text></TEI>
[122/0136]
Bald fährt Frau Bröſicke vom Melken auf, denn
ein ſeltſames Kikeriki ſchallt ihr aus der Wandluke.
Wetter! Wo kommen denn die Hühner her! und
als ſie ſich umwendet, blitzen ihr zwei wunderblaue
Augen entgegen unter einer blonden Lockenfülle, und
die kirſchrothen Lippen öffnen ſich, um zwei Reihen
Perlenzähne zu zeigen und ein: „Angeführt mit Löſch¬
papier, Frau Bröſicke!“ ihr zuzurufen. „I ſo ſoll
doch!“ ruft die Bäuerin und läßt den Melkeimer fallen,
aber ihre Ueberraſchung iſt keine unangenehme: „Ach
die ſeelenhübſche Mamſell Adelheid vom Gensd'armen¬
markt!“ Auf dem Hofe aber hat eine andere Ueber¬
raſchung Platz gegriffen, die nicht ſo angenehmen
Eindruck hinterläßt. Das Dienſtmädchen hatte eben
vom Schöpfbrunnen den vollen Eimer an die dur¬
ſtigen Lippen geſetzt, als eine heftige Ohrfeige, die
aus der Luft zu ſchwirren ſchien, ihre brennenden
Backen noch röther machte. Der Eimer ſchnellte aus
ihrer Hand, und das Waſſer, was ſie nicht trinken
ſollte, überſchüttete ſie aus den Lüften. „Es geht
doch nichts über die Unvernunft ſolcher Leute. Zu trin¬
ken, wenn ſie erhitzt ſind!“ — Das Mädchen weint,
aber ſie beklagt ſich nicht. Der Hausherr hat das
Recht. Auch die Hausfrau widerſpricht nicht; nur
flüſtert ſie ihrem Alten zu: „Alter! Solchen Leuten
ſchadet es nicht. Das liebe Vieh trinkt auch, wenn
es Luſt hat und frägt nicht, ob's die Doctoren ver¬
boten haben.“
Nun iſt alles helle Thätigkeit inner und außer
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 1. Berlin, 1852, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe01_1852/136>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.