Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907.

Bild:
<< vorherige Seite

psychischen Bewältigung und eines psychophysischen Einklanges. Clara
Schumann (B. Litzmann, Ein Künstlerleben nach Tagebüchern und
Briefen) berichtet aus ihrer Kindheit: "Diese (die Magd, welche die
Obhut hatte) war eben nicht sprachselig, und daher mochte es wohl
kommen, daß ich erst zwischen dem vierten und fünften Jahr einzelne
Worte zu sprechen anfing und zu dieser Zeit auch ebenso wenig ver-
stehen konnte." Und an anderer Stelle: "... Da ich so wenig sprechen
hörte und selbst dazu so wenig Lust bezeigte, ... so klagten meine
Eltern oft, besonders als ich anfing zu sprechen, daß ich schwer höre;
und dies hatte sich noch nicht ganz im achten Jahre verloren, ob es
sich gleich besserte, je mehr ich selbst zu sprechen anfing und je
mehr ich bemerkte, was um mich und mit mir geschah." Dazu die
Bemerkung ihres Vaters: "Das ist der Eingangsakkord eines Künstler-
lebens, das in seinem weiteren Verlaufe durch die Fülle reinen Wohl-
lautes, die es spendete, für unzählige Menschen ein Freudenbringer
seltener Art, ja auch mehr als das, fast zu einem Vorbilde vollendeter
und abgeklärter Harmonie der Kunst und des Lebens werden sollte.
Es beginnt mit einer herben Dissonanz." Einer unserer be-
kanntesten Klaviervirtuosen, R. B., litt in seiner Kindheit an beider-
seitiger eitriger Mittelohrentzündung und Perforation des Trommelfelles.

Der Degenerationszeichen, Kinderfehler, Reflexanomalien bei
Rednern, Sängern, Schauspielern habe ich bereits Erwähnung getan.
Diese Zeichen sowie die häufigen Erkrankungen des Respirationstraktes
solcher Personen oder ihres Stammbaumes lassen mit Bestimmtheit den
Schluß auf ursprüngliche Minderwertigkeit des Respirationsapparates
und konsekutiver Überkompensation im dazugehörigen psychischen Feld
zu. Ähnlich verhält es sich bei den Köchinnen und Gourmands, was
ebenfalls an anderer Stelle betont wurde. Ich muß dabei noch aufmerk-
sam machen, daß die bei diesen Personen so häufigen Magendarm-
erkrankungen sowie die schlechten Zähne sicherlich nicht von heißen
oder pikanten Speisen herrühren, sondern auf der Minderwertigkeit ihres
Ernährungsorganes beruhen. So z. B. das Ulcus rotundum, dessen Nei-
gung zur Rezidive und karzinomatöse Umwandlung erst von diesem
Gesichtspunkte aus verstanden werden kann. Ähnliche Verhältnisse wie bei
den Musikern findet man bei den Malern. Ich will von einzelnen Fällen,
Lenbach und einigen mir bekannten Malern, nicht reden. Aber die bis-
her angestellten augenärztlichen Untersuchungen in Malerschulen er-
geben bis an 70% Augenanomalien.

Dies die Ergebnisse bei Betrachtung der gelungenen Überkompen-
sation, die offenbar auch ausreichen, die Irrtümer Lombrosos zu er-

psychischen Bewältigung und eines psychophysischen Einklanges. Clara
Schumann (B. Litzmann, Ein Künstlerleben nach Tagebüchern und
Briefen) berichtet aus ihrer Kindheit: „Diese (die Magd, welche die
Obhut hatte) war eben nicht sprachselig, und daher mochte es wohl
kommen, daß ich erst zwischen dem vierten und fünften Jahr einzelne
Worte zu sprechen anfing und zu dieser Zeit auch ebenso wenig ver-
stehen konnte.“ Und an anderer Stelle: „… Da ich so wenig sprechen
hörte und selbst dazu so wenig Lust bezeigte, … so klagten meine
Eltern oft, besonders als ich anfing zu sprechen, daß ich schwer höre;
und dies hatte sich noch nicht ganz im achten Jahre verloren, ob es
sich gleich besserte, je mehr ich selbst zu sprechen anfing und je
mehr ich bemerkte, was um mich und mit mir geschah.“ Dazu die
Bemerkung ihres Vaters: „Das ist der Eingangsakkord eines Künstler-
lebens, das in seinem weiteren Verlaufe durch die Fülle reinen Wohl-
lautes, die es spendete, für unzählige Menschen ein Freudenbringer
seltener Art, ja auch mehr als das, fast zu einem Vorbilde vollendeter
und abgeklärter Harmonie der Kunst und des Lebens werden sollte.
Es beginnt mit einer herben Dissonanz.“ Einer unserer be-
kanntesten Klaviervirtuosen, R. B., litt in seiner Kindheit an beider-
seitiger eitriger Mittelohrentzündung und Perforation des Trommelfelles.

Der Degenerationszeichen, Kinderfehler, Reflexanomalien bei
Rednern, Sängern, Schauspielern habe ich bereits Erwähnung getan.
Diese Zeichen sowie die häufigen Erkrankungen des Respirationstraktes
solcher Personen oder ihres Stammbaumes lassen mit Bestimmtheit den
Schluß auf ursprüngliche Minderwertigkeit des Respirationsapparates
und konsekutiver Überkompensation im dazugehörigen psychischen Feld
zu. Ähnlich verhält es sich bei den Köchinnen und Gourmands, was
ebenfalls an anderer Stelle betont wurde. Ich muß dabei noch aufmerk-
sam machen, daß die bei diesen Personen so häufigen Magendarm-
erkrankungen sowie die schlechten Zähne sicherlich nicht von heißen
oder pikanten Speisen herrühren, sondern auf der Minderwertigkeit ihres
Ernährungsorganes beruhen. So z. B. das Ulcus rotundum, dessen Nei-
gung zur Rezidive und karzinomatöse Umwandlung erst von diesem
Gesichtspunkte aus verstanden werden kann. Ähnliche Verhältnisse wie bei
den Musikern findet man bei den Malern. Ich will von einzelnen Fällen,
Lenbach und einigen mir bekannten Malern, nicht reden. Aber die bis-
her angestellten augenärztlichen Untersuchungen in Malerschulen er-
geben bis an 70% Augenanomalien.

Dies die Ergebnisse bei Betrachtung der gelungenen Überkompen-
sation, die offenbar auch ausreichen, die Irrtümer Lombrosos zu er-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0078" n="66"/>
psychischen Bewältigung und eines psychophysischen Einklanges. Clara<lb/><hi rendition="#g">Schumann</hi> (B. <hi rendition="#g">Litzmann</hi>, Ein Künstlerleben nach Tagebüchern und<lb/>
Briefen) berichtet aus ihrer Kindheit: &#x201E;Diese (die Magd, welche die<lb/>
Obhut hatte) war eben nicht sprachselig, und daher mochte es wohl<lb/>
kommen, daß ich erst zwischen dem vierten und fünften Jahr einzelne<lb/>
Worte zu sprechen anfing und zu dieser Zeit auch ebenso wenig ver-<lb/>
stehen konnte.&#x201C; Und an anderer Stelle: &#x201E;&#x2026; Da ich so wenig sprechen<lb/>
hörte und selbst dazu so wenig Lust bezeigte, &#x2026; so klagten meine<lb/>
Eltern oft, besonders als ich anfing zu sprechen, daß ich schwer höre;<lb/>
und dies hatte sich noch nicht ganz im achten Jahre verloren, ob es<lb/>
sich gleich besserte, je mehr ich selbst zu sprechen anfing und je<lb/>
mehr ich bemerkte, was um mich und mit mir geschah.&#x201C; Dazu die<lb/>
Bemerkung ihres Vaters: &#x201E;Das ist der Eingangsakkord eines Künstler-<lb/>
lebens, das in seinem weiteren Verlaufe durch die Fülle reinen Wohl-<lb/>
lautes, die es spendete, für unzählige Menschen ein Freudenbringer<lb/>
seltener Art, ja auch mehr als das, fast zu einem Vorbilde vollendeter<lb/>
und abgeklärter Harmonie der Kunst und des Lebens werden sollte.<lb/><hi rendition="#g">Es beginnt mit einer herben Dissonanz</hi>.&#x201C; Einer unserer be-<lb/>
kanntesten Klaviervirtuosen, R. B., litt in seiner Kindheit an beider-<lb/>
seitiger eitriger Mittelohrentzündung und Perforation des Trommelfelles.</p><lb/>
          <p>Der Degenerationszeichen, Kinderfehler, Reflexanomalien bei<lb/>
Rednern, Sängern, Schauspielern habe ich bereits Erwähnung getan.<lb/>
Diese Zeichen sowie die häufigen Erkrankungen des Respirationstraktes<lb/>
solcher Personen oder ihres Stammbaumes lassen mit Bestimmtheit den<lb/>
Schluß auf ursprüngliche Minderwertigkeit des Respirationsapparates<lb/>
und konsekutiver Überkompensation im dazugehörigen psychischen Feld<lb/>
zu. Ähnlich verhält es sich bei den Köchinnen und Gourmands, was<lb/>
ebenfalls an anderer Stelle betont wurde. Ich muß dabei noch aufmerk-<lb/>
sam machen, daß die bei diesen Personen so häufigen Magendarm-<lb/>
erkrankungen sowie die schlechten Zähne sicherlich nicht von heißen<lb/>
oder pikanten Speisen herrühren, sondern auf der Minderwertigkeit ihres<lb/>
Ernährungsorganes beruhen. So z. B. das Ulcus rotundum, dessen Nei-<lb/>
gung zur Rezidive und karzinomatöse Umwandlung erst von diesem<lb/>
Gesichtspunkte aus verstanden werden kann. Ähnliche Verhältnisse wie bei<lb/>
den Musikern findet man bei den Malern. Ich will von einzelnen Fällen,<lb/>
Lenbach und einigen mir bekannten Malern, nicht reden. Aber die bis-<lb/>
her angestellten augenärztlichen Untersuchungen in Malerschulen er-<lb/>
geben bis an 70% Augenanomalien.</p><lb/>
          <p>Dies die Ergebnisse bei Betrachtung der gelungenen Überkompen-<lb/>
sation, die offenbar auch ausreichen, die Irrtümer <hi rendition="#i">Lombrosos</hi> zu er-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[66/0078] psychischen Bewältigung und eines psychophysischen Einklanges. Clara Schumann (B. Litzmann, Ein Künstlerleben nach Tagebüchern und Briefen) berichtet aus ihrer Kindheit: „Diese (die Magd, welche die Obhut hatte) war eben nicht sprachselig, und daher mochte es wohl kommen, daß ich erst zwischen dem vierten und fünften Jahr einzelne Worte zu sprechen anfing und zu dieser Zeit auch ebenso wenig ver- stehen konnte.“ Und an anderer Stelle: „… Da ich so wenig sprechen hörte und selbst dazu so wenig Lust bezeigte, … so klagten meine Eltern oft, besonders als ich anfing zu sprechen, daß ich schwer höre; und dies hatte sich noch nicht ganz im achten Jahre verloren, ob es sich gleich besserte, je mehr ich selbst zu sprechen anfing und je mehr ich bemerkte, was um mich und mit mir geschah.“ Dazu die Bemerkung ihres Vaters: „Das ist der Eingangsakkord eines Künstler- lebens, das in seinem weiteren Verlaufe durch die Fülle reinen Wohl- lautes, die es spendete, für unzählige Menschen ein Freudenbringer seltener Art, ja auch mehr als das, fast zu einem Vorbilde vollendeter und abgeklärter Harmonie der Kunst und des Lebens werden sollte. Es beginnt mit einer herben Dissonanz.“ Einer unserer be- kanntesten Klaviervirtuosen, R. B., litt in seiner Kindheit an beider- seitiger eitriger Mittelohrentzündung und Perforation des Trommelfelles. Der Degenerationszeichen, Kinderfehler, Reflexanomalien bei Rednern, Sängern, Schauspielern habe ich bereits Erwähnung getan. Diese Zeichen sowie die häufigen Erkrankungen des Respirationstraktes solcher Personen oder ihres Stammbaumes lassen mit Bestimmtheit den Schluß auf ursprüngliche Minderwertigkeit des Respirationsapparates und konsekutiver Überkompensation im dazugehörigen psychischen Feld zu. Ähnlich verhält es sich bei den Köchinnen und Gourmands, was ebenfalls an anderer Stelle betont wurde. Ich muß dabei noch aufmerk- sam machen, daß die bei diesen Personen so häufigen Magendarm- erkrankungen sowie die schlechten Zähne sicherlich nicht von heißen oder pikanten Speisen herrühren, sondern auf der Minderwertigkeit ihres Ernährungsorganes beruhen. So z. B. das Ulcus rotundum, dessen Nei- gung zur Rezidive und karzinomatöse Umwandlung erst von diesem Gesichtspunkte aus verstanden werden kann. Ähnliche Verhältnisse wie bei den Musikern findet man bei den Malern. Ich will von einzelnen Fällen, Lenbach und einigen mir bekannten Malern, nicht reden. Aber die bis- her angestellten augenärztlichen Untersuchungen in Malerschulen er- geben bis an 70% Augenanomalien. Dies die Ergebnisse bei Betrachtung der gelungenen Überkompen- sation, die offenbar auch ausreichen, die Irrtümer Lombrosos zu er-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2013-01-07T09:54:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-01-07T09:54:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2013-01-07T09:54:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907/78
Zitationshilfe: Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907/78>, abgerufen am 30.11.2024.