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Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907.

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die mühsam aufrechterhaltene Kompensation stören. Denn die minder-
wertigen Organe stoßen ringsherum auf Schwierigkeiten und
Gefahren, was nur ihrem natürlichen Verhältnis zur Um-
gebung entspricht und die eigentliche Grundlage der natura-
selection
Darwins darstellt. Kommt es zur Bewältigung, so nur
unter erhöhtem Kraftaufwand. Schon das vollwertige Organ steht vor
der Aufgabe, sein uneingeschränktes, lustvolles Walten dem Zwang der
Erziehung zu unterwerfen. Der Nahrungsapparat soll nur Befriedigung
finden, so weit es die Einrichtungen des Milieus und der große Ekel
der Kultur gestattet. So wird das übergeordnete psychische Gebiet zu
bestimmten Aufgaben genötigt, die anfangs nicht leicht fallen, im Durch-
schnitt aber durch Steigerung der Leistungsfähigkeit anstandslos ge-
lingen. Im Falle der Minderwertigkeit des Organes aber und ent-
sprechender Insuffizienz der zugehörigen Anteile des Nervensystems
bleibt die Einfügung des Organes und seiner Tätigkeit in die verlangte
Kultur zurück. Die Funktion geht dann nicht die geforderten kulturellen
Bahnen, sondern arbeitet vorwiegend auf Lustgewinn. Wir finden also
in der Entwicklung des vollwertigen Organes eine gewisse Unterordnung
der Lustkomponente unter die vom Milieu erheischten Leistungen --
wir wollen sie die "moralischen" nennen --, deren endgültiger Sieg
die Kultur des Kindes sicherstellt. Der Einklang der physischen und
psychischen Leistungsfähigkeit, ein psychophysischer Parallelismus
im wahren Sinne des Wortes, kennzeichnet die Entwicklung des voll-
wertigen Kindes. Anders beim minderwertigen Organ. Liegt ein besonderer
Tiefstand der Entwicklung des Organes als auch der zugehörigen Nerven-
bahnen vor, so wird jede Kultur verweigert und es resultieren Zustände
wie Idiotismus und Imbezillität. Aber auch bei milderer Ausprägung
arbeitet das minderwertige Organ selbsttätig, dem psychischen Eingreifen
abhold, auf Lustgewinn und fröhnt demselben um so mehr, je länger
es auf die moralische Ablösung -- Freuds Verdrängung -- warten
muß. Denn es hat sich unterdessen in den spielerischen Betrieb einge-
lebt, soll nun die Verdrängung, weil später, gegen größeren organischen
Widerstand durchführen, einen andauernden Kampf führen, der als
qualvoller Zwang zur Empfindung kommt. Am klarsten liegen diese
Verhältnisse in der kulturellen Entwicklung der Harn- und Stuhlent-
leerung zutage. Ganz sich selbst überlassen gehen diese Funktionen
beim Säugling rein spielerisch vor sich und sind infolgedessen mit der
sinnlichen Lust gepaart, wie sie allen instinktiven organischen Ver-
richtungen zukommt. Die Einwirkungen der Umgebung genügen bei
vollwertigem Organ und vollwertigem psychomotorischen Überbau, um

die mühsam aufrechterhaltene Kompensation stören. Denn die minder-
wertigen Organe stoßen ringsherum auf Schwierigkeiten und
Gefahren, was nur ihrem natürlichen Verhältnis zur Um-
gebung entspricht und die eigentliche Grundlage der natura-
selection
Darwins darstellt. Kommt es zur Bewältigung, so nur
unter erhöhtem Kraftaufwand. Schon das vollwertige Organ steht vor
der Aufgabe, sein uneingeschränktes, lustvolles Walten dem Zwang der
Erziehung zu unterwerfen. Der Nahrungsapparat soll nur Befriedigung
finden, so weit es die Einrichtungen des Milieus und der große Ekel
der Kultur gestattet. So wird das übergeordnete psychische Gebiet zu
bestimmten Aufgaben genötigt, die anfangs nicht leicht fallen, im Durch-
schnitt aber durch Steigerung der Leistungsfähigkeit anstandslos ge-
lingen. Im Falle der Minderwertigkeit des Organes aber und ent-
sprechender Insuffizienz der zugehörigen Anteile des Nervensystems
bleibt die Einfügung des Organes und seiner Tätigkeit in die verlangte
Kultur zurück. Die Funktion geht dann nicht die geforderten kulturellen
Bahnen, sondern arbeitet vorwiegend auf Lustgewinn. Wir finden also
in der Entwicklung des vollwertigen Organes eine gewisse Unterordnung
der Lustkomponente unter die vom Milieu erheischten Leistungen —
wir wollen sie die „moralischen“ nennen —, deren endgültiger Sieg
die Kultur des Kindes sicherstellt. Der Einklang der physischen und
psychischen Leistungsfähigkeit, ein psychophysischer Parallelismus
im wahren Sinne des Wortes, kennzeichnet die Entwicklung des voll-
wertigen Kindes. Anders beim minderwertigen Organ. Liegt ein besonderer
Tiefstand der Entwicklung des Organes als auch der zugehörigen Nerven-
bahnen vor, so wird jede Kultur verweigert und es resultieren Zustände
wie Idiotismus und Imbezillität. Aber auch bei milderer Ausprägung
arbeitet das minderwertige Organ selbsttätig, dem psychischen Eingreifen
abhold, auf Lustgewinn und fröhnt demselben um so mehr, je länger
es auf die moralische Ablösung — Freuds Verdrängung — warten
muß. Denn es hat sich unterdessen in den spielerischen Betrieb einge-
lebt, soll nun die Verdrängung, weil später, gegen größeren organischen
Widerstand durchführen, einen andauernden Kampf führen, der als
qualvoller Zwang zur Empfindung kommt. Am klarsten liegen diese
Verhältnisse in der kulturellen Entwicklung der Harn- und Stuhlent-
leerung zutage. Ganz sich selbst überlassen gehen diese Funktionen
beim Säugling rein spielerisch vor sich und sind infolgedessen mit der
sinnlichen Lust gepaart, wie sie allen instinktiven organischen Ver-
richtungen zukommt. Die Einwirkungen der Umgebung genügen bei
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[64/0076] die mühsam aufrechterhaltene Kompensation stören. Denn die minder- wertigen Organe stoßen ringsherum auf Schwierigkeiten und Gefahren, was nur ihrem natürlichen Verhältnis zur Um- gebung entspricht und die eigentliche Grundlage der natura- selection Darwins darstellt. Kommt es zur Bewältigung, so nur unter erhöhtem Kraftaufwand. Schon das vollwertige Organ steht vor der Aufgabe, sein uneingeschränktes, lustvolles Walten dem Zwang der Erziehung zu unterwerfen. Der Nahrungsapparat soll nur Befriedigung finden, so weit es die Einrichtungen des Milieus und der große Ekel der Kultur gestattet. So wird das übergeordnete psychische Gebiet zu bestimmten Aufgaben genötigt, die anfangs nicht leicht fallen, im Durch- schnitt aber durch Steigerung der Leistungsfähigkeit anstandslos ge- lingen. Im Falle der Minderwertigkeit des Organes aber und ent- sprechender Insuffizienz der zugehörigen Anteile des Nervensystems bleibt die Einfügung des Organes und seiner Tätigkeit in die verlangte Kultur zurück. Die Funktion geht dann nicht die geforderten kulturellen Bahnen, sondern arbeitet vorwiegend auf Lustgewinn. Wir finden also in der Entwicklung des vollwertigen Organes eine gewisse Unterordnung der Lustkomponente unter die vom Milieu erheischten Leistungen — wir wollen sie die „moralischen“ nennen —, deren endgültiger Sieg die Kultur des Kindes sicherstellt. Der Einklang der physischen und psychischen Leistungsfähigkeit, ein psychophysischer Parallelismus im wahren Sinne des Wortes, kennzeichnet die Entwicklung des voll- wertigen Kindes. Anders beim minderwertigen Organ. Liegt ein besonderer Tiefstand der Entwicklung des Organes als auch der zugehörigen Nerven- bahnen vor, so wird jede Kultur verweigert und es resultieren Zustände wie Idiotismus und Imbezillität. Aber auch bei milderer Ausprägung arbeitet das minderwertige Organ selbsttätig, dem psychischen Eingreifen abhold, auf Lustgewinn und fröhnt demselben um so mehr, je länger es auf die moralische Ablösung — Freuds Verdrängung — warten muß. Denn es hat sich unterdessen in den spielerischen Betrieb einge- lebt, soll nun die Verdrängung, weil später, gegen größeren organischen Widerstand durchführen, einen andauernden Kampf führen, der als qualvoller Zwang zur Empfindung kommt. Am klarsten liegen diese Verhältnisse in der kulturellen Entwicklung der Harn- und Stuhlent- leerung zutage. Ganz sich selbst überlassen gehen diese Funktionen beim Säugling rein spielerisch vor sich und sind infolgedessen mit der sinnlichen Lust gepaart, wie sie allen instinktiven organischen Ver- richtungen zukommt. Die Einwirkungen der Umgebung genügen bei vollwertigem Organ und vollwertigem psychomotorischen Überbau, um

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Zitationshilfe: Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907/76>, abgerufen am 30.11.2024.