Der Fall ließ sich als Magenneurose an, zog sieh unter geringfügiger Besserung in die Länge, bis nach zwei Monaten plötzlich Darmkoliken, heftiges Erbrechen und intensive Druckempfindlichkeit in der Gegend des Appendix auftraten, die unter Fieber eingesetzt hatten. Nach opera- tiver Entfernung des erkrankten Appendix trat vollständige Heilung ein. Nur zeigt sich zuweilen im Anschlusse an Migräne Erbrechen.
Die Analyse zeigt uns wieder den peripheren Befund, die Reflex- anomalie des Gaumens, wie ich sie bei Ulcus rotundum und Appendi- zitis einige Male gefunden habe -- meist Steigerung, selten Mangel des Gaumenreflexes --, die bis in die frühe Kindheit reichende Anamnese und -- was die relative Seltenheit des Falles ausmacht -- Erkrankungen an verschiedenen Stellen, der Zähne, des Magens, des Appendix. -- In der Literatur finden sich Hinweise auf Magenblutungen bei Appendi- zitis, die wir wie im obigen Falle, bei dem beide Erkrankungen zeitlich auseinanderliegen, auf die Einheit einer Magen-Darmminderwertigkeit zu- rückführen müssen. Aber auch die Verknüpfung von Neurose mit Appendi- zitis macht diesen Fall bemerkenswert. Die Anamnese wenigstens entrollt uns das Bild einer kindlichen Hysterie und auch die der Appendizitis vorauf- gegangene Appetitlosigkeit trägt den Charakter der Neurose. Auffällig ist auch der Ekel vor Fleisch, einer psychischen Abwehr des minderwertigen Organs, den wir auch aus der Symptomatologie des Magenkarzinoms -- gleichfalls einer Erkrankung auf dem Boden der Organminderwertigkeit -- kennen. Schon hier möchten wir hervorheben, daß diese psychische Abwehr einer Kompensation im Zentralnervensystem entstammt, die mit dem gesteigerten Gaumenreflex in Parallele zu setzen ist. --
Überhaupt ist die Zahnbildung und ihre Mängel ein wichtiger In- dex für die Minderwertigkeit des Ernährungstraktes. Schon bei rachiti schen Kindern ist das Zusammentreffen von schlechter oder später Zahnentwicklung und Magendarmstörung eine Tatsache, deren Verfol- gung interessante Ergebnisse verspricht. Hieran anknüpfend erwähne ich bloß die häufig anzutreffende Fettleibigkeit, die mir eine Folge der Überkompensation des minderwertigen Magens, Darms und seiner An- hänge zu sein scheint, und dies nicht etwa bloß bei rachitischen Kin- dern, sondern auch bei Erwachsenen. Ich habe wiederholt bei höheren Graden von Adipositas alle Merkmale wiedergefunden, wie ich sie bei Darmminderwertigkeit erwarte. Oder wenigstens einzelne von ihnen. So Heredität und die betreffenden Stigmen in der Heredität oder Er- krankungen, die sich im Magendarmtrakt abspielten. Ebenso Obsti- pation oder unwillkürliche Darmentleerungen in früher Kindheit. In meiner kleinen Kasuistik über Diabetesfälle findet sich manches ein-
Der Fall ließ sich als Magenneurose an, zog sieh unter geringfügiger Besserung in die Länge, bis nach zwei Monaten plötzlich Darmkoliken, heftiges Erbrechen und intensive Druckempfindlichkeit in der Gegend des Appendix auftraten, die unter Fieber eingesetzt hatten. Nach opera- tiver Entfernung des erkrankten Appendix trat vollständige Heilung ein. Nur zeigt sich zuweilen im Anschlusse an Migräne Erbrechen.
Die Analyse zeigt uns wieder den peripheren Befund, die Reflex- anomalie des Gaumens, wie ich sie bei Ulcus rotundum und Appendi- zitis einige Male gefunden habe — meist Steigerung, selten Mangel des Gaumenreflexes —, die bis in die frühe Kindheit reichende Anamnese und — was die relative Seltenheit des Falles ausmacht — Erkrankungen an verschiedenen Stellen, der Zähne, des Magens, des Appendix. — In der Literatur finden sich Hinweise auf Magenblutungen bei Appendi- zitis, die wir wie im obigen Falle, bei dem beide Erkrankungen zeitlich auseinanderliegen, auf die Einheit einer Magen-Darmminderwertigkeit zu- rückführen müssen. Aber auch die Verknüpfung von Neurose mit Appendi- zitis macht diesen Fall bemerkenswert. Die Anamnese wenigstens entrollt uns das Bild einer kindlichen Hysterie und auch die der Appendizitis vorauf- gegangene Appetitlosigkeit trägt den Charakter der Neurose. Auffällig ist auch der Ekel vor Fleisch, einer psychischen Abwehr des minderwertigen Organs, den wir auch aus der Symptomatologie des Magenkarzinoms — gleichfalls einer Erkrankung auf dem Boden der Organminderwertigkeit — kennen. Schon hier möchten wir hervorheben, daß diese psychische Abwehr einer Kompensation im Zentralnervensystem entstammt, die mit dem gesteigerten Gaumenreflex in Parallele zu setzen ist. —
Überhaupt ist die Zahnbildung und ihre Mängel ein wichtiger In- dex für die Minderwertigkeit des Ernährungstraktes. Schon bei rachiti schen Kindern ist das Zusammentreffen von schlechter oder später Zahnentwicklung und Magendarmstörung eine Tatsache, deren Verfol- gung interessante Ergebnisse verspricht. Hieran anknüpfend erwähne ich bloß die häufig anzutreffende Fettleibigkeit, die mir eine Folge der Überkompensation des minderwertigen Magens, Darms und seiner An- hänge zu sein scheint, und dies nicht etwa bloß bei rachitischen Kin- dern, sondern auch bei Erwachsenen. Ich habe wiederholt bei höheren Graden von Adipositas alle Merkmale wiedergefunden, wie ich sie bei Darmminderwertigkeit erwarte. Oder wenigstens einzelne von ihnen. So Heredität und die betreffenden Stigmen in der Heredität oder Er- krankungen, die sich im Magendarmtrakt abspielten. Ebenso Obsti- pation oder unwillkürliche Darmentleerungen in früher Kindheit. In meiner kleinen Kasuistik über Diabetesfälle findet sich manches ein-
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[38/0050]
Der Fall ließ sich als Magenneurose an, zog sieh unter geringfügiger
Besserung in die Länge, bis nach zwei Monaten plötzlich Darmkoliken,
heftiges Erbrechen und intensive Druckempfindlichkeit in der Gegend
des Appendix auftraten, die unter Fieber eingesetzt hatten. Nach opera-
tiver Entfernung des erkrankten Appendix trat vollständige Heilung
ein. Nur zeigt sich zuweilen im Anschlusse an Migräne Erbrechen.
Die Analyse zeigt uns wieder den peripheren Befund, die Reflex-
anomalie des Gaumens, wie ich sie bei Ulcus rotundum und Appendi-
zitis einige Male gefunden habe — meist Steigerung, selten Mangel des
Gaumenreflexes —, die bis in die frühe Kindheit reichende Anamnese
und — was die relative Seltenheit des Falles ausmacht — Erkrankungen
an verschiedenen Stellen, der Zähne, des Magens, des Appendix. —
In der Literatur finden sich Hinweise auf Magenblutungen bei Appendi-
zitis, die wir wie im obigen Falle, bei dem beide Erkrankungen zeitlich
auseinanderliegen, auf die Einheit einer Magen-Darmminderwertigkeit zu-
rückführen müssen. Aber auch die Verknüpfung von Neurose mit Appendi-
zitis macht diesen Fall bemerkenswert. Die Anamnese wenigstens entrollt
uns das Bild einer kindlichen Hysterie und auch die der Appendizitis vorauf-
gegangene Appetitlosigkeit trägt den Charakter der Neurose. Auffällig ist
auch der Ekel vor Fleisch, einer psychischen Abwehr des minderwertigen
Organs, den wir auch aus der Symptomatologie des Magenkarzinoms —
gleichfalls einer Erkrankung auf dem Boden der Organminderwertigkeit
— kennen. Schon hier möchten wir hervorheben, daß diese psychische
Abwehr einer Kompensation im Zentralnervensystem entstammt, die mit
dem gesteigerten Gaumenreflex in Parallele zu setzen ist. —
Überhaupt ist die Zahnbildung und ihre Mängel ein wichtiger In-
dex für die Minderwertigkeit des Ernährungstraktes. Schon bei rachiti
schen Kindern ist das Zusammentreffen von schlechter oder später
Zahnentwicklung und Magendarmstörung eine Tatsache, deren Verfol-
gung interessante Ergebnisse verspricht. Hieran anknüpfend erwähne
ich bloß die häufig anzutreffende Fettleibigkeit, die mir eine Folge der
Überkompensation des minderwertigen Magens, Darms und seiner An-
hänge zu sein scheint, und dies nicht etwa bloß bei rachitischen Kin-
dern, sondern auch bei Erwachsenen. Ich habe wiederholt bei höheren
Graden von Adipositas alle Merkmale wiedergefunden, wie ich sie bei
Darmminderwertigkeit erwarte. Oder wenigstens einzelne von ihnen.
So Heredität und die betreffenden Stigmen in der Heredität oder Er-
krankungen, die sich im Magendarmtrakt abspielten. Ebenso Obsti-
pation oder unwillkürliche Darmentleerungen in früher Kindheit. In
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Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907/50>, abgerufen am 04.07.2024.
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