drang noch einige Schritte vor, ich sah mich mitten unter öden Felsen, die nur mit Moos und Steinbrecharten bewach- sen waren, und zwischen welchen Schnee- und Eisfelder lagen. Die Luft war sehr kalt, ich sah mich um, der Wald war hin- ter mir verschwunden. Ich machte noch einige Schritte -- um mich herrschte die Stille des Todes, unabsehbar dehnte sich das Eis, worauf ich stand, und worauf ein dichter Nebel schwer ruhte; die Sonne stand blutig am Rande des Hori- zontes. Die Kälte war unerträglich. Ich wußte nicht, wie mir geschehen war, der erstarrende Frost zwang mich, meine Schritte zu beschleunigen, ich vernahm nur das Gebrause fer- ner Gewässer, ein Schritt, und ich war am Eisufer eines Oceans. Unzählbare Heerden von Seehunden stürzten sich vor mir rauschend in die Fluth. Ich folgte diesem Ufer, ich sah wieder nackte Felsen, Land, Birken- und Tannenwälder, ich lief noch ein paar Minuten gerade vor mir hin. Es war erstickend heiß, ich sah mich um, ich stand zwischen schön ge- bauten Reisfeldern unter Maulbeerbäumen. Ich setzte mich in deren Schatten, ich sah nach meiner Uhr, ich hatte vor nicht einer Viertelstunde den Marktflecken verlassen, -- ich glaubte zu träumen, ich biß mich in die Zunge, um mich zu erwecken; aber ich wachte wirklich. -- Ich schloß die Augen zu, um meine Gedanken zusammen zu fassen. -- Ich hörte vor mir seltsame Sylben durch die Nase zählen; ich blickte auf: zwei Chinesen, an der asiatischen Gesichtsbildung unver- kennbar, wenn ich auch ihrer Kleidung keinen Glauben bei- messen wollte, redeten mich mit landesüblichen Begrüßungen in ihrer Sprache an; ich stand auf und trat zwei Schritte zurück. Ich sah sie nicht mehr, die Landschaft war ganz ver- ändert: Bäume, Wälder, statt der Reisfelder. Ich betrach- tete diese Bäume und die Kräuter, die um mich blühten; die ich kannte, waren südöstlich asiatische Gewächse; ich wollte auf den einen Baum zugehen, ein Schritt -- und wiederum
drang noch einige Schritte vor, ich ſah mich mitten unter öden Felſen, die nur mit Moos und Steinbrecharten bewach- ſen waren, und zwiſchen welchen Schnee- und Eisfelder lagen. Die Luft war ſehr kalt, ich ſah mich um, der Wald war hin- ter mir verſchwunden. Ich machte noch einige Schritte — um mich herrſchte die Stille des Todes, unabſehbar dehnte ſich das Eis, worauf ich ſtand, und worauf ein dichter Nebel ſchwer ruhte; die Sonne ſtand blutig am Rande des Hori- zontes. Die Kälte war unerträglich. Ich wußte nicht, wie mir geſchehen war, der erſtarrende Froſt zwang mich, meine Schritte zu beſchleunigen, ich vernahm nur das Gebrauſe fer- ner Gewäſſer, ein Schritt, und ich war am Eisufer eines Oceans. Unzählbare Heerden von Seehunden ſtürzten ſich vor mir rauſchend in die Fluth. Ich folgte dieſem Ufer, ich ſah wieder nackte Felſen, Land, Birken- und Tannenwälder, ich lief noch ein paar Minuten gerade vor mir hin. Es war erſtickend heiß, ich ſah mich um, ich ſtand zwiſchen ſchön ge- bauten Reisfeldern unter Maulbeerbäumen. Ich ſetzte mich in deren Schatten, ich ſah nach meiner Uhr, ich hatte vor nicht einer Viertelſtunde den Marktflecken verlaſſen, — ich glaubte zu träumen, ich biß mich in die Zunge, um mich zu erwecken; aber ich wachte wirklich. — Ich ſchloß die Augen zu, um meine Gedanken zuſammen zu faſſen. — Ich hörte vor mir ſeltſame Sylben durch die Naſe zählen; ich blickte auf: zwei Chineſen, an der aſiatiſchen Geſichtsbildung unver- kennbar, wenn ich auch ihrer Kleidung keinen Glauben bei- meſſen wollte, redeten mich mit landesüblichen Begrüßungen in ihrer Sprache an; ich ſtand auf und trat zwei Schritte zurück. Ich ſah ſie nicht mehr, die Landſchaft war ganz ver- ändert: Bäume, Wälder, ſtatt der Reisfelder. Ich betrach- tete dieſe Bäume und die Kräuter, die um mich blühten; die ich kannte, waren ſüdöſtlich aſiatiſche Gewächſe; ich wollte auf den einen Baum zugehen, ein Schritt — und wiederum
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drang noch einige Schritte vor, ich ſah mich mitten unter
öden Felſen, die nur mit Moos und Steinbrecharten bewach-
ſen waren, und zwiſchen welchen Schnee- und Eisfelder lagen.
Die Luft war ſehr kalt, ich ſah mich um, der Wald war hin-
ter mir verſchwunden. Ich machte noch einige Schritte —
um mich herrſchte die Stille des Todes, unabſehbar dehnte
ſich das Eis, worauf ich ſtand, und worauf ein dichter Nebel
ſchwer ruhte; die Sonne ſtand blutig am Rande des Hori-
zontes. Die Kälte war unerträglich. Ich wußte nicht, wie
mir geſchehen war, der erſtarrende Froſt zwang mich, meine
Schritte zu beſchleunigen, ich vernahm nur das Gebrauſe fer-
ner Gewäſſer, ein Schritt, und ich war am Eisufer eines
Oceans. Unzählbare Heerden von Seehunden ſtürzten ſich
vor mir rauſchend in die Fluth. Ich folgte dieſem Ufer, ich
ſah wieder nackte Felſen, Land, Birken- und Tannenwälder,
ich lief noch ein paar Minuten gerade vor mir hin. Es war
erſtickend heiß, ich ſah mich um, ich ſtand zwiſchen ſchön ge-
bauten Reisfeldern unter Maulbeerbäumen. Ich ſetzte mich
in deren Schatten, ich ſah nach meiner Uhr, ich hatte vor
nicht einer Viertelſtunde den Marktflecken verlaſſen, — ich
glaubte zu träumen, ich biß mich in die Zunge, um mich zu
erwecken; aber ich wachte wirklich. — Ich ſchloß die Augen
zu, um meine Gedanken zuſammen zu faſſen. — Ich hörte
vor mir ſeltſame Sylben durch die Naſe zählen; ich blickte
auf: zwei Chineſen, an der aſiatiſchen Geſichtsbildung unver-
kennbar, wenn ich auch ihrer Kleidung keinen Glauben bei-
meſſen wollte, redeten mich mit landesüblichen Begrüßungen
in ihrer Sprache an; ich ſtand auf und trat zwei Schritte
zurück. Ich ſah ſie nicht mehr, die Landſchaft war ganz ver-
ändert: Bäume, Wälder, ſtatt der Reisfelder. Ich betrach-
tete dieſe Bäume und die Kräuter, die um mich blühten; die
ich kannte, waren ſüdöſtlich aſiatiſche Gewächſe; ich wollte
auf den einen Baum zugehen, ein Schritt — und wiederum
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Chamisso, Adelbert von: Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte. Nürnberg, 1839, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/Yw_7531_1/87>, abgerufen am 18.06.2024.
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