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Chamisso, Adelbert von: Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte. In: Adelbert von Chamisso's Werke. Bd. 4. Leipzig, 1836. S. 225-327.

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verlassen, -- ich glaubte zu träumen, ich biß mich in die
Zunge, um mich zu erwecken; aber ich wachte wirklich. --
Ich schloß die Augen zu, um meine Gedanken zusammen
zu fassen. -- Ich hörte vor mir seltsame Sylben durch die
Nase zählen; ich blickte auf: zwei Chinesen, an der asiati-
schen Gesichtsbildung unverkennbar, wenn ich auch ihrer
Kleidung keinen Glauben beimessen wollte, redeten mich
mit landesüblichen Begrüßungen in ihrer Sprache an; ich
stand auf und trat zwei Schritte zurück. Ich sah sie
nicht mehr, die Landschaft war ganz verändert: Bäume,
Wälder, statt der Reisfelder. Ich betrachtete diese Bäume
und die Kräuter, die um mich blühten; die ich kannte,
waren südöstlich asiatische Gewächse; ich wollte auf den
einen Baum zugehen, ein Schritt -- und wiederum Alles
verändert. Ich trat nun an, wie ein Rekrut, der geübt
wird, und schritt langsam, gesetzt einher. Wunderbar ver-
änderliche Länder, Fluren, Auen, Gebirge, Steppen, Sand-
wüsten, entrollen sich vor meinem staunenden Blick: es
war kein Zweifel, ich hatte Siebenmeilenstiefel an den
Füßen.



verlaſſen, — ich glaubte zu traͤumen, ich biß mich in die
Zunge, um mich zu erwecken; aber ich wachte wirklich. —
Ich ſchloß die Augen zu, um meine Gedanken zuſammen
zu faſſen. — Ich hoͤrte vor mir ſeltſame Sylben durch die
Naſe zaͤhlen; ich blickte auf: zwei Chineſen, an der aſiati-
ſchen Geſichtsbildung unverkennbar, wenn ich auch ihrer
Kleidung keinen Glauben beimeſſen wollte, redeten mich
mit landesuͤblichen Begruͤßungen in ihrer Sprache an; ich
ſtand auf und trat zwei Schritte zuruͤck. Ich ſah ſie
nicht mehr, die Landſchaft war ganz veraͤndert: Baͤume,
Waͤlder, ſtatt der Reisfelder. Ich betrachtete dieſe Baͤume
und die Kraͤuter, die um mich bluͤhten; die ich kannte,
waren ſuͤdoͤſtlich aſiatiſche Gewaͤchſe; ich wollte auf den
einen Baum zugehen, ein Schritt — und wiederum Alles
veraͤndert. Ich trat nun an, wie ein Rekrut, der geuͤbt
wird, und ſchritt langſam, geſetzt einher. Wunderbar ver-
aͤnderliche Laͤnder, Fluren, Auen, Gebirge, Steppen, Sand-
wuͤſten, entrollen ſich vor meinem ſtaunenden Blick: es
war kein Zweifel, ich hatte Siebenmeilenſtiefel an den
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[314/0104] verlaſſen, — ich glaubte zu traͤumen, ich biß mich in die Zunge, um mich zu erwecken; aber ich wachte wirklich. — Ich ſchloß die Augen zu, um meine Gedanken zuſammen zu faſſen. — Ich hoͤrte vor mir ſeltſame Sylben durch die Naſe zaͤhlen; ich blickte auf: zwei Chineſen, an der aſiati- ſchen Geſichtsbildung unverkennbar, wenn ich auch ihrer Kleidung keinen Glauben beimeſſen wollte, redeten mich mit landesuͤblichen Begruͤßungen in ihrer Sprache an; ich ſtand auf und trat zwei Schritte zuruͤck. Ich ſah ſie nicht mehr, die Landſchaft war ganz veraͤndert: Baͤume, Waͤlder, ſtatt der Reisfelder. Ich betrachtete dieſe Baͤume und die Kraͤuter, die um mich bluͤhten; die ich kannte, waren ſuͤdoͤſtlich aſiatiſche Gewaͤchſe; ich wollte auf den einen Baum zugehen, ein Schritt — und wiederum Alles veraͤndert. Ich trat nun an, wie ein Rekrut, der geuͤbt wird, und ſchritt langſam, geſetzt einher. Wunderbar ver- aͤnderliche Laͤnder, Fluren, Auen, Gebirge, Steppen, Sand- wuͤſten, entrollen ſich vor meinem ſtaunenden Blick: es war kein Zweifel, ich hatte Siebenmeilenſtiefel an den Fuͤßen.

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Zitationshilfe: Chamisso, Adelbert von: Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte. In: Adelbert von Chamisso's Werke. Bd. 4. Leipzig, 1836. S. 225-327, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/19_ZZ_2749/104>, abgerufen am 28.04.2024.