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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

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I. Der Urstand nach kirchlicher Ueberlieferung.

Wir haben im Bisherigen die kirchliche Tradition bis gegen
Anfang des 18. Jahrhunderts in denjenigen ihrer Aussagen verhört,
welche das Ueberschwengliche und Ungesunde ihrer Auffassung des
Urstands vorzugsweise anschaulich hervortreten lassen. Es würde
ungerecht sein, wollten wir hiemit den Umkreiß der auf die ursprüng-
liche Beschaffenheit des Menschen bezüglichen Vorstellungen der Träger
jener Tradition schon als geschlossen und Alles, was zur Darlegung
ihrer einschlägigen Anschauungen dienen kann, als erschöpft betrachten.
Das kirchliche Dogma vom Urstande und von der verlorenen Gott-
bildlichkeit steht nicht ganz so unvermittelt und losgelöst von son-
stigen auf die Menschheitsgeschichte bezüglichen Annahmen da, daß
es als jeglicher Anerkennung eines gesunden organischen Fortschritts
in dieser Geschichte widersprechend erschiene und es unmöglich machte,
die im Paradiese begonnene Entwicklung als eine continuirliche,
einheitlich von Gott geleitete und mit Consequenz ihrem Ziele zu-
strebende zn begreifen. Neben den degradationistischen, ein
Herabsinken von der ursprünglichen Höhe und Vollkommenheit voraus-
setzenden Anschauungen geht, mit den frühesten Kirchenvätern anhebend
und namentlich in neuester Zeit, seit vorigem Jahrhundert, mit
Sorgfalt ausgebildet, eine evolutionistische, das Wiederempor-
steigen des gefallenen Menschen zu den lichten Höhen der ihm
ursprünglich bestimmt gewesenen Gottbildlichkeit und Naturbeherrschung
ins Auge fassende Betrachtungsweise her. Auch ihr müssen wir uns
in näherer Betrachtung zuwenden.

Schon die Geschichtsphilosophie der Väter ist keine ganz ein-
seitig degradationistische oder pessimistische. Sie schenkt neben dem
Sinken der Menschheit von ihrer ursprünglich innegehabten Höhe
auch der zum Reiche Christi emporstrebenden Entwicklung ihre Be-
achtung; das Drama der Weltgeschichte schließt nach ihr Beme-
gungen von beiderlei Tendenz, abwärtsgehende und aufsteigende, in
sich. Von den patristischen Versuchen der Gewinnung eines gewissen
speculativen Gesammtüberblicks über das Ganze der Heilsgeschichte
vor und nach Christo sind die ältesten nicht degradationistisch, son-

I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.

Wir haben im Bisherigen die kirchliche Tradition bis gegen
Anfang des 18. Jahrhunderts in denjenigen ihrer Ausſagen verhört,
welche das Ueberſchwengliche und Ungeſunde ihrer Auffaſſung des
Urſtands vorzugsweiſe anſchaulich hervortreten laſſen. Es würde
ungerecht ſein, wollten wir hiemit den Umkreiß der auf die urſprüng-
liche Beſchaffenheit des Menſchen bezüglichen Vorſtellungen der Träger
jener Tradition ſchon als geſchloſſen und Alles, was zur Darlegung
ihrer einſchlägigen Anſchauungen dienen kann, als erſchöpft betrachten.
Das kirchliche Dogma vom Urſtande und von der verlorenen Gott-
bildlichkeit ſteht nicht ganz ſo unvermittelt und losgelöſt von ſon-
ſtigen auf die Menſchheitsgeſchichte bezüglichen Annahmen da, daß
es als jeglicher Anerkennung eines geſunden organiſchen Fortſchritts
in dieſer Geſchichte widerſprechend erſchiene und es unmöglich machte,
die im Paradieſe begonnene Entwicklung als eine continuirliche,
einheitlich von Gott geleitete und mit Conſequenz ihrem Ziele zu-
ſtrebende zn begreifen. Neben den degradationiſtiſchen, ein
Herabſinken von der urſprünglichen Höhe und Vollkommenheit voraus-
ſetzenden Anſchauungen geht, mit den früheſten Kirchenvätern anhebend
und namentlich in neueſter Zeit, ſeit vorigem Jahrhundert, mit
Sorgfalt ausgebildet, eine evolutioniſtiſche, das Wiederempor-
ſteigen des gefallenen Menſchen zu den lichten Höhen der ihm
urſprünglich beſtimmt geweſenen Gottbildlichkeit und Naturbeherrſchung
ins Auge faſſende Betrachtungsweiſe her. Auch ihr müſſen wir uns
in näherer Betrachtung zuwenden.

Schon die Geſchichtsphiloſophie der Väter iſt keine ganz ein-
ſeitig degradationiſtiſche oder peſſimiſtiſche. Sie ſchenkt neben dem
Sinken der Menſchheit von ihrer urſprünglich innegehabten Höhe
auch der zum Reiche Chriſti emporſtrebenden Entwicklung ihre Be-
achtung; das Drama der Weltgeſchichte ſchließt nach ihr Beme-
gungen von beiderlei Tendenz, abwärtsgehende und aufſteigende, in
ſich. Von den patriſtiſchen Verſuchen der Gewinnung eines gewiſſen
ſpeculativen Geſammtüberblicks über das Ganze der Heilsgeſchichte
vor und nach Chriſto ſind die älteſten nicht degradationiſtiſch, ſon-

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[29/0039] I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung. Wir haben im Bisherigen die kirchliche Tradition bis gegen Anfang des 18. Jahrhunderts in denjenigen ihrer Ausſagen verhört, welche das Ueberſchwengliche und Ungeſunde ihrer Auffaſſung des Urſtands vorzugsweiſe anſchaulich hervortreten laſſen. Es würde ungerecht ſein, wollten wir hiemit den Umkreiß der auf die urſprüng- liche Beſchaffenheit des Menſchen bezüglichen Vorſtellungen der Träger jener Tradition ſchon als geſchloſſen und Alles, was zur Darlegung ihrer einſchlägigen Anſchauungen dienen kann, als erſchöpft betrachten. Das kirchliche Dogma vom Urſtande und von der verlorenen Gott- bildlichkeit ſteht nicht ganz ſo unvermittelt und losgelöſt von ſon- ſtigen auf die Menſchheitsgeſchichte bezüglichen Annahmen da, daß es als jeglicher Anerkennung eines geſunden organiſchen Fortſchritts in dieſer Geſchichte widerſprechend erſchiene und es unmöglich machte, die im Paradieſe begonnene Entwicklung als eine continuirliche, einheitlich von Gott geleitete und mit Conſequenz ihrem Ziele zu- ſtrebende zn begreifen. Neben den degradationiſtiſchen, ein Herabſinken von der urſprünglichen Höhe und Vollkommenheit voraus- ſetzenden Anſchauungen geht, mit den früheſten Kirchenvätern anhebend und namentlich in neueſter Zeit, ſeit vorigem Jahrhundert, mit Sorgfalt ausgebildet, eine evolutioniſtiſche, das Wiederempor- ſteigen des gefallenen Menſchen zu den lichten Höhen der ihm urſprünglich beſtimmt geweſenen Gottbildlichkeit und Naturbeherrſchung ins Auge faſſende Betrachtungsweiſe her. Auch ihr müſſen wir uns in näherer Betrachtung zuwenden. Schon die Geſchichtsphiloſophie der Väter iſt keine ganz ein- ſeitig degradationiſtiſche oder peſſimiſtiſche. Sie ſchenkt neben dem Sinken der Menſchheit von ihrer urſprünglich innegehabten Höhe auch der zum Reiche Chriſti emporſtrebenden Entwicklung ihre Be- achtung; das Drama der Weltgeſchichte ſchließt nach ihr Beme- gungen von beiderlei Tendenz, abwärtsgehende und aufſteigende, in ſich. Von den patriſtiſchen Verſuchen der Gewinnung eines gewiſſen ſpeculativen Geſammtüberblicks über das Ganze der Heilsgeſchichte vor und nach Chriſto ſind die älteſten nicht degradationiſtiſch, ſon-

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Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/39>, abgerufen am 26.04.2024.