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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

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I. Der Urstand nach kirchlicher Ueberlieferung.
aussagen hinausgehenden Steigerungen des Begriffs ursprünglicher
Vollkommenheit gewährte den Kirchenvätern, insbesondre den abend-
ländischen, der Pelagianismus mit seiner Behauptung eines zwar
willensfreien, aber weder sittlich vollendeten noch unsterblichen
Erschaffenseins des ersten Menschen. Die betr. Denkweise tritt zuerst
bei den Antiochenern des ausgehenden 4. Jahrhunderts hervor.
Einem Diodor von Tarsus und Theodor von Mopsuestia, den
morgenländischen Gesinnungsgenossen der Pelagianer, galt die Er-
schaffung des ersten Menschen als eine in ethischer Hinsicht unvoll-
kommene, durch Christi Erlösungswerk nothwendig zu ergänzende.
Adam wurde von ihnen zwar als Mikrokosmos, als das zusammen-
haltende Band der Schöpfung beschrieben, aber immerhin doch als
sittlich wie physisch wandelbar und als nicht unsterblich; das
"Schöpfungsband" wurde als ein ebensowohl veränderliches wie
auflösbares dargestellt1). Aehnlich die Häupter des Pelagianismus,
welche dem Menschen vor dem Falle eine gewisse Vollkommenheit
zuschreiben, dieselbe aber wesentlich nur in einer Ausrüstung mit
Naturgaben und in der Freiheit des Wählens zwischen Gut und
Böse, unter bestimmtem Ausschluß der Unsterblichkeit, bestehen lassen.
Die Freiheit, welche sie Adam beilegen, erscheint lediglich als formale,
seine Vollkommenheit als eine ganz unbestimmte, ethisch unerfüllte,
auf die pura naturalia beschränkte, daher in der Hauptsache unver-
lorene. Der sündlose Urstand wird nach pelagianischer Anschauung
zwar nicht geleugnet, aber doch zu sittlicher Bedeutungslosigkeit
herabgesetzt, weil sein wesentliches Fortdauern auch nach dem Eintritt
der Sünde in die Menschheitsgeschichte vorausgesetzt wird2).

Gegenüber dieser Häresie sah Augustinus als Vorkämpfer des
biblisch-kirchlichen Erbsündebegriffs sich zu einer Behandlung des

1) Theodor v. Mops. Comment. in Ep. ad Rom. 8, 19; auch in
Ephes.
1, 10 (b. Pitra, Spicil. Solesm. I, 102 sq.). Vgl. Wörter, Der
Pelagianismus (Freiburg 1866), S. 20 f.
2) S. bes. Julian v. Eclanum, bei Augustin, Op. imperfect. contra
Jul. III,
144 und V, 59; sowie Wörter, a. a. O., S. 212. 227.

I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.
ausſagen hinausgehenden Steigerungen des Begriffs urſprünglicher
Vollkommenheit gewährte den Kirchenvätern, insbeſondre den abend-
ländiſchen, der Pelagianismus mit ſeiner Behauptung eines zwar
willensfreien, aber weder ſittlich vollendeten noch unſterblichen
Erſchaffenſeins des erſten Menſchen. Die betr. Denkweiſe tritt zuerſt
bei den Antiochenern des ausgehenden 4. Jahrhunderts hervor.
Einem Diodor von Tarſus und Theodor von Mopſueſtia, den
morgenländiſchen Geſinnungsgenoſſen der Pelagianer, galt die Er-
ſchaffung des erſten Menſchen als eine in ethiſcher Hinſicht unvoll-
kommene, durch Chriſti Erlöſungswerk nothwendig zu ergänzende.
Adam wurde von ihnen zwar als Mikrokosmos, als das zuſammen-
haltende Band der Schöpfung beſchrieben, aber immerhin doch als
ſittlich wie phyſiſch wandelbar und als nicht unſterblich; das
„Schöpfungsband‟ wurde als ein ebenſowohl veränderliches wie
auflösbares dargeſtellt1). Aehnlich die Häupter des Pelagianismus,
welche dem Menſchen vor dem Falle eine gewiſſe Vollkommenheit
zuſchreiben, dieſelbe aber weſentlich nur in einer Ausrüſtung mit
Naturgaben und in der Freiheit des Wählens zwiſchen Gut und
Böſe, unter beſtimmtem Ausſchluß der Unſterblichkeit, beſtehen laſſen.
Die Freiheit, welche ſie Adam beilegen, erſcheint lediglich als formale,
ſeine Vollkommenheit als eine ganz unbeſtimmte, ethiſch unerfüllte,
auf die pura naturalia beſchränkte, daher in der Hauptſache unver-
lorene. Der ſündloſe Urſtand wird nach pelagianiſcher Anſchauung
zwar nicht geleugnet, aber doch zu ſittlicher Bedeutungsloſigkeit
herabgeſetzt, weil ſein weſentliches Fortdauern auch nach dem Eintritt
der Sünde in die Menſchheitsgeſchichte vorausgeſetzt wird2).

Gegenüber dieſer Häreſie ſah Auguſtinus als Vorkämpfer des
bibliſch-kirchlichen Erbſündebegriffs ſich zu einer Behandlung des

1) Theodor v. Mopſ. Comment. in Ep. ad Rom. 8, 19; auch in
Ephes.
1, 10 (b. Pitra, Spicil. Solesm. I, 102 sq.). Vgl. Wörter, Der
Pelagianismus (Freiburg 1866), S. 20 f.
2) S. beſ. Julian v. Eclanum, bei Auguſtin, Op. imperfect. contra
Jul. III,
144 und V, 59; ſowie Wörter, a. a. O., S. 212. 227.
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[12/0022] I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung. ausſagen hinausgehenden Steigerungen des Begriffs urſprünglicher Vollkommenheit gewährte den Kirchenvätern, insbeſondre den abend- ländiſchen, der Pelagianismus mit ſeiner Behauptung eines zwar willensfreien, aber weder ſittlich vollendeten noch unſterblichen Erſchaffenſeins des erſten Menſchen. Die betr. Denkweiſe tritt zuerſt bei den Antiochenern des ausgehenden 4. Jahrhunderts hervor. Einem Diodor von Tarſus und Theodor von Mopſueſtia, den morgenländiſchen Geſinnungsgenoſſen der Pelagianer, galt die Er- ſchaffung des erſten Menſchen als eine in ethiſcher Hinſicht unvoll- kommene, durch Chriſti Erlöſungswerk nothwendig zu ergänzende. Adam wurde von ihnen zwar als Mikrokosmos, als das zuſammen- haltende Band der Schöpfung beſchrieben, aber immerhin doch als ſittlich wie phyſiſch wandelbar und als nicht unſterblich; das „Schöpfungsband‟ wurde als ein ebenſowohl veränderliches wie auflösbares dargeſtellt 1). Aehnlich die Häupter des Pelagianismus, welche dem Menſchen vor dem Falle eine gewiſſe Vollkommenheit zuſchreiben, dieſelbe aber weſentlich nur in einer Ausrüſtung mit Naturgaben und in der Freiheit des Wählens zwiſchen Gut und Böſe, unter beſtimmtem Ausſchluß der Unſterblichkeit, beſtehen laſſen. Die Freiheit, welche ſie Adam beilegen, erſcheint lediglich als formale, ſeine Vollkommenheit als eine ganz unbeſtimmte, ethiſch unerfüllte, auf die pura naturalia beſchränkte, daher in der Hauptſache unver- lorene. Der ſündloſe Urſtand wird nach pelagianiſcher Anſchauung zwar nicht geleugnet, aber doch zu ſittlicher Bedeutungsloſigkeit herabgeſetzt, weil ſein weſentliches Fortdauern auch nach dem Eintritt der Sünde in die Menſchheitsgeſchichte vorausgeſetzt wird 2). Gegenüber dieſer Häreſie ſah Auguſtinus als Vorkämpfer des bibliſch-kirchlichen Erbſündebegriffs ſich zu einer Behandlung des 1) Theodor v. Mopſ. Comment. in Ep. ad Rom. 8, 19; auch in Ephes. 1, 10 (b. Pitra, Spicil. Solesm. I, 102 sq.). Vgl. Wörter, Der Pelagianismus (Freiburg 1866), S. 20 f. 2) S. beſ. Julian v. Eclanum, bei Auguſtin, Op. imperfect. contra Jul. III, 144 und V, 59; ſowie Wörter, a. a. O., S. 212. 227.

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Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/22>, abgerufen am 26.04.2024.