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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

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Einleitung.
der ethischen Religion" eine gewisse unmittelbare aber unbewußte,
immer freilich nur relative Gottesgemeinschaft gelten, welche vom
Bewußtsein des Gegensatzes aus als verlorenes Paradies erscheine.
"Die Frage nach den natürlichen Bedingungen für die ersten An-
fänge des Menschengeschlechts sei einfach der Naturwissenschaft anheim-
zugeben"; denn durch alle Analogien mit dem Thierleben, möge
man dieselben noch so weit verfolgen, werde doch "die Hauptsache,
die specifisch geistige Ausrüstung des Menschen, nicht aufgehoben." 1)
Mit der schneidendsten pietätslosesten Schärfe, seinen obengenannten
philosophischen Bruder an Schroffheit der Opposition wider die
Kirchenlehre weit überbietend, hat jüngst O. Pfleiderer in Berlin
sich über unsren Gegenstand geäußert. Was die Kirche seit Augustin
von der sündlosen Unschuld des Menschengeschlechts vor dem
Falle gelehrt habe, sei nichts als "zügellose Phantasie." Nur die
moderne Natur- und Alterthumswissenschaft sei hier maaßgebend;
den ächten ursprünglichen Sinn der hebräischen Sündenfallsmythe
habe Schiller getroffen in dem Aufsatze über die erste Menschen-
gesellschaft, sowie mit ihm wesentlich übereinstimmend Hegel in der
Religionsphilosophie! Mit der gottbildlichen Würde des Menschen
sei die Annahme seines Thierursprungs ganz wohl vereinbar; jene
hänge von den Durchgangsstufen seiner Entstehung ganz und gar
nicht ab. "Freilich muß die Form des kirchlichen Glaubens hier
wesentliche Aenderungen erfahren: die paradiesische Urzeit, allen
Thatsachen der Natur- und Geschichtsforschung widersprechend, fällt
rettungslos dahin; mit ihr Sündenfall, Erbschuld und kirchliche
Auffassung des Erlösungswerks Christi. Aber anstatt der unhalt-
baren Form tritt der Kern (?) nur um so reiner hervor. Das
Jdeal menschlicher Würde liegt nicht hinter uns, sondern vor uns
als Ziel der Entwicklung." 2)

1) K. Hase, Evang. Dogmatik, § 64 (S. 48 f. der 4. Aufl.). -- Rothe,
Theologische Ethik, § 496 (I, 211 ff., 1. Aufl.). -- Biedermann, Christl. Dog-
matik, Zürich 1869. -- Lipsius, Lehrb. der ev.-protest. Dogmatik 1876, S. 343. --
2) Pfleiderer, Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grundlage, Berlin

Einleitung.
der ethiſchen Religion‟ eine gewiſſe unmittelbare aber unbewußte,
immer freilich nur relative Gottesgemeinſchaft gelten, welche vom
Bewußtſein des Gegenſatzes aus als verlorenes Paradies erſcheine.
„Die Frage nach den natürlichen Bedingungen für die erſten An-
fänge des Menſchengeſchlechts ſei einfach der Naturwiſſenſchaft anheim-
zugeben‟; denn durch alle Analogien mit dem Thierleben, möge
man dieſelben noch ſo weit verfolgen, werde doch „die Hauptſache,
die ſpecifiſch geiſtige Ausrüſtung des Menſchen, nicht aufgehoben.‟ 1)
Mit der ſchneidendſten pietätsloſeſten Schärfe, ſeinen obengenannten
philoſophiſchen Bruder an Schroffheit der Oppoſition wider die
Kirchenlehre weit überbietend, hat jüngſt O. Pfleiderer in Berlin
ſich über unſren Gegenſtand geäußert. Was die Kirche ſeit Auguſtin
von der ſündloſen Unſchuld des Menſchengeſchlechts vor dem
Falle gelehrt habe, ſei nichts als „zügelloſe Phantaſie.‟ Nur die
moderne Natur- und Alterthumswiſſenſchaft ſei hier maaßgebend;
den ächten urſprünglichen Sinn der hebräiſchen Sündenfallsmythe
habe Schiller getroffen in dem Aufſatze über die erſte Menſchen-
geſellſchaft, ſowie mit ihm weſentlich übereinſtimmend Hegel in der
Religionsphiloſophie! Mit der gottbildlichen Würde des Menſchen
ſei die Annahme ſeines Thierurſprungs ganz wohl vereinbar; jene
hänge von den Durchgangsſtufen ſeiner Entſtehung ganz und gar
nicht ab. „Freilich muß die Form des kirchlichen Glaubens hier
weſentliche Aenderungen erfahren: die paradieſiſche Urzeit, allen
Thatſachen der Natur- und Geſchichtsforſchung widerſprechend, fällt
rettungslos dahin; mit ihr Sündenfall, Erbſchuld und kirchliche
Auffaſſung des Erlöſungswerks Chriſti. Aber anſtatt der unhalt-
baren Form tritt der Kern (?) nur um ſo reiner hervor. Das
Jdeal menſchlicher Würde liegt nicht hinter uns, ſondern vor uns
als Ziel der Entwicklung.‟ 2)

1) K. Haſe, Evang. Dogmatik, § 64 (S. 48 f. der 4. Aufl.). — Rothe,
Theologiſche Ethik, § 496 (I, 211 ff., 1. Aufl.). — Biedermann, Chriſtl. Dog-
matik, Zürich 1869. — Lipſius, Lehrb. der ev.-proteſt. Dogmatik 1876, S. 343. —
2) Pfleiderer, Religionsphiloſophie auf geſchichtlicher Grundlage, Berlin
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[6/0016] Einleitung. der ethiſchen Religion‟ eine gewiſſe unmittelbare aber unbewußte, immer freilich nur relative Gottesgemeinſchaft gelten, welche vom Bewußtſein des Gegenſatzes aus als verlorenes Paradies erſcheine. „Die Frage nach den natürlichen Bedingungen für die erſten An- fänge des Menſchengeſchlechts ſei einfach der Naturwiſſenſchaft anheim- zugeben‟; denn durch alle Analogien mit dem Thierleben, möge man dieſelben noch ſo weit verfolgen, werde doch „die Hauptſache, die ſpecifiſch geiſtige Ausrüſtung des Menſchen, nicht aufgehoben.‟ 1) Mit der ſchneidendſten pietätsloſeſten Schärfe, ſeinen obengenannten philoſophiſchen Bruder an Schroffheit der Oppoſition wider die Kirchenlehre weit überbietend, hat jüngſt O. Pfleiderer in Berlin ſich über unſren Gegenſtand geäußert. Was die Kirche ſeit Auguſtin von der ſündloſen Unſchuld des Menſchengeſchlechts vor dem Falle gelehrt habe, ſei nichts als „zügelloſe Phantaſie.‟ Nur die moderne Natur- und Alterthumswiſſenſchaft ſei hier maaßgebend; den ächten urſprünglichen Sinn der hebräiſchen Sündenfallsmythe habe Schiller getroffen in dem Aufſatze über die erſte Menſchen- geſellſchaft, ſowie mit ihm weſentlich übereinſtimmend Hegel in der Religionsphiloſophie! Mit der gottbildlichen Würde des Menſchen ſei die Annahme ſeines Thierurſprungs ganz wohl vereinbar; jene hänge von den Durchgangsſtufen ſeiner Entſtehung ganz und gar nicht ab. „Freilich muß die Form des kirchlichen Glaubens hier weſentliche Aenderungen erfahren: die paradieſiſche Urzeit, allen Thatſachen der Natur- und Geſchichtsforſchung widerſprechend, fällt rettungslos dahin; mit ihr Sündenfall, Erbſchuld und kirchliche Auffaſſung des Erlöſungswerks Chriſti. Aber anſtatt der unhalt- baren Form tritt der Kern (?) nur um ſo reiner hervor. Das Jdeal menſchlicher Würde liegt nicht hinter uns, ſondern vor uns als Ziel der Entwicklung.‟ 2) 1) K. Haſe, Evang. Dogmatik, § 64 (S. 48 f. der 4. Aufl.). — Rothe, Theologiſche Ethik, § 496 (I, 211 ff., 1. Aufl.). — Biedermann, Chriſtl. Dog- matik, Zürich 1869. — Lipſius, Lehrb. der ev.-proteſt. Dogmatik 1876, S. 343. — 2) Pfleiderer, Religionsphiloſophie auf geſchichtlicher Grundlage, Berlin

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Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/16>, abgerufen am 27.04.2024.