Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wundt, Wilhelm: Handbuch der medicinischen Physik. Erlangen, 1867.

Bild:
<< vorherige Seite

Von den Naturerscheinungen und Naturgesetzen im Allgemeinen.
eine ganz allgemeine Gültigkeit besitzen, von welcher Art die wirken-
den Kräfte, und von welcher Beschaffenheit und Vertheilung im Raum
die Punkte oder Massen sein mögen, zwischen denen die Kräfte wirken,
so müssen wir doch, um jene auf die Naturerscheinungen anwenden
zu können, von einer bestimmten Ansicht über die Beschaffenheit der
Materie, welche die Trägerin aller Naturkräfte ist, ausgehen. Diese
Ansicht kann aber so lange nur als eine hypothetische gelten, als,
wie dies gegenwärtig noch der Fall ist, in den Naturerscheinungen
zwar genügende Wahrscheinlichkeitsgründe, aber keine zwingenden
Beweise für dieselbe gefunden werden können. Wir stellen die jetzt
allgemein angenommene Theorie über die physikalische Natur der Ma-
terie voran und gehen dann zu einer übersichtlichen Darstellung der
allgemeinen Bewegungsgesetze über *).

Zweites Capitel.
Von der Beschaffenheit der Materie und den Aggregatzuständen.

14
Allgemeine Ei-
genschaften der
Materie. Ato-
mistische The-
orie.

Alles Ausgedehnte im Raume bezeichnen wir als Materie. Wir
kennen die Materie nur aus den Kräften, die sie äussert. Wir neh-
men die Materie mit unsern Sinnen wahr, wenn bestimmte Kräfte der-
selben auf unsere Sinnesorgane einwirken. Wir studiren die physika-
lischen Eigenschaften der Materie, indem wir möglichst vollständig die
Wirkungsweise ihrer Kräfte zu ermitteln suchen. Die Materie aller
Körper hat vorzüglich die zwei Eigenschaften gemein, dass sie aus-
gedehnt ist, und dass sie einer äussern Kraft einen gewissen Wider-
stand entgegensetzt. Wollen wir daher einen allgemeinen Begriff von
der Materie überhaupt gewinnen, so müssen wir unsere Untersuchung
zunächst auf diejenigen Kräfte beschränken, durch welche jene beiden
Grundeigenschaften der Materie bedingt sind. Die Ansicht, die man
hierdurch von dem Wesen der Materie gewinnt, bleibt jedoch desshalb
immer eine hypothetische, weil wir auf die Kräfte, die im Innern der
Körper wirksam sind, nur aus den Kräften, die nach aussen wirken,
zurückschliessen können. Es ist nun eine höchst wahrscheinliche Vor-
aussetzung, dass, wie wir die Körper als ganze Anziehungs- und Ab-
stossungskräfte äussern sehen, so auch die kleinsten Theile derselben
theils mit Anziehungs- theils mit Abstossungskräften begabt sind. So
nehmen wir an, dass die Cohäsion der Körper auf einer gegensei-
tigen Anzeihungskraft ihrer Theile beruht. Ein Körper müsste augen-
blicklich in den feinsten Staub zerfallen, wenn jene Anziehung in ihm
nicht mehr vorhanden wäre. Dagegen führen wir die Elasticität

*) Den Gegenstand des vorstehenden Capitels in seiner philosophischen Bedeutung
findet man erörtert in der Schrift des Verf.: die physikalischen Axiome und
ihre Beziehung zum Causalprincip. Erlangen 1866.

Von den Naturerscheinungen und Naturgesetzen im Allgemeinen.
eine ganz allgemeine Gültigkeit besitzen, von welcher Art die wirken-
den Kräfte, und von welcher Beschaffenheit und Vertheilung im Raum
die Punkte oder Massen sein mögen, zwischen denen die Kräfte wirken,
so müssen wir doch, um jene auf die Naturerscheinungen anwenden
zu können, von einer bestimmten Ansicht über die Beschaffenheit der
Materie, welche die Trägerin aller Naturkräfte ist, ausgehen. Diese
Ansicht kann aber so lange nur als eine hypothetische gelten, als,
wie dies gegenwärtig noch der Fall ist, in den Naturerscheinungen
zwar genügende Wahrscheinlichkeitsgründe, aber keine zwingenden
Beweise für dieselbe gefunden werden können. Wir stellen die jetzt
allgemein angenommene Theorie über die physikalische Natur der Ma-
terie voran und gehen dann zu einer übersichtlichen Darstellung der
allgemeinen Bewegungsgesetze über *).

Zweites Capitel.
Von der Beschaffenheit der Materie und den Aggregatzuständen.

14
Allgemeine Ei-
genschaften der
Materie. Ato-
mistische The-
orie.

Alles Ausgedehnte im Raume bezeichnen wir als Materie. Wir
kennen die Materie nur aus den Kräften, die sie äussert. Wir neh-
men die Materie mit unsern Sinnen wahr, wenn bestimmte Kräfte der-
selben auf unsere Sinnesorgane einwirken. Wir studiren die physika-
lischen Eigenschaften der Materie, indem wir möglichst vollständig die
Wirkungsweise ihrer Kräfte zu ermitteln suchen. Die Materie aller
Körper hat vorzüglich die zwei Eigenschaften gemein, dass sie aus-
gedehnt ist, und dass sie einer äussern Kraft einen gewissen Wider-
stand entgegensetzt. Wollen wir daher einen allgemeinen Begriff von
der Materie überhaupt gewinnen, so müssen wir unsere Untersuchung
zunächst auf diejenigen Kräfte beschränken, durch welche jene beiden
Grundeigenschaften der Materie bedingt sind. Die Ansicht, die man
hierdurch von dem Wesen der Materie gewinnt, bleibt jedoch desshalb
immer eine hypothetische, weil wir auf die Kräfte, die im Innern der
Körper wirksam sind, nur aus den Kräften, die nach aussen wirken,
zurückschliessen können. Es ist nun eine höchst wahrscheinliche Vor-
aussetzung, dass, wie wir die Körper als ganze Anziehungs- und Ab-
stossungskräfte äussern sehen, so auch die kleinsten Theile derselben
theils mit Anziehungs- theils mit Abstossungskräften begabt sind. So
nehmen wir an, dass die Cohäsion der Körper auf einer gegensei-
tigen Anzeihungskraft ihrer Theile beruht. Ein Körper müsste augen-
blicklich in den feinsten Staub zerfallen, wenn jene Anziehung in ihm
nicht mehr vorhanden wäre. Dagegen führen wir die Elasticität

*) Den Gegenstand des vorstehenden Capitels in seiner philosophischen Bedeutung
findet man erörtert in der Schrift des Verf.: die physikalischen Axiome und
ihre Beziehung zum Causalprincip. Erlangen 1866.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0036" n="14"/><fw place="top" type="header">Von den Naturerscheinungen und Naturgesetzen im Allgemeinen.</fw><lb/>
eine ganz allgemeine Gültigkeit besitzen, von welcher Art die wirken-<lb/>
den Kräfte, und von welcher Beschaffenheit und Vertheilung im Raum<lb/>
die Punkte oder Massen sein mögen, zwischen denen die Kräfte wirken,<lb/>
so müssen wir doch, um jene auf die Naturerscheinungen anwenden<lb/>
zu können, von einer bestimmten Ansicht über die Beschaffenheit der<lb/>
Materie, welche die Trägerin aller Naturkräfte ist, ausgehen. Diese<lb/>
Ansicht kann aber so lange nur als eine hypothetische gelten, als,<lb/>
wie dies gegenwärtig noch der Fall ist, in den Naturerscheinungen<lb/>
zwar genügende Wahrscheinlichkeitsgründe, aber keine zwingenden<lb/>
Beweise für dieselbe gefunden werden können. Wir stellen die jetzt<lb/>
allgemein angenommene Theorie über die physikalische Natur der Ma-<lb/>
terie voran und gehen dann zu einer übersichtlichen Darstellung der<lb/>
allgemeinen Bewegungsgesetze über <note place="foot" n="*)">Den Gegenstand des vorstehenden Capitels in seiner philosophischen Bedeutung<lb/>
findet man erörtert in der Schrift des Verf.: die physikalischen Axiome und<lb/>
ihre Beziehung zum Causalprincip. Erlangen 1866.</note>.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#g">Zweites Capitel</hi>.<lb/>
Von der Beschaffenheit der Materie und den Aggregatzuständen.</head><lb/>
          <note place="left">14<lb/>
Allgemeine Ei-<lb/>
genschaften der<lb/>
Materie. Ato-<lb/>
mistische The-<lb/>
orie.</note>
          <p>Alles Ausgedehnte im Raume bezeichnen wir als <hi rendition="#g">Materie</hi>. Wir<lb/>
kennen die Materie nur aus den Kräften, die sie äussert. Wir neh-<lb/>
men die Materie mit unsern Sinnen wahr, wenn bestimmte Kräfte der-<lb/>
selben auf unsere Sinnesorgane einwirken. Wir studiren die physika-<lb/>
lischen Eigenschaften der Materie, indem wir möglichst vollständig die<lb/>
Wirkungsweise ihrer Kräfte zu ermitteln suchen. Die Materie aller<lb/>
Körper hat vorzüglich die <hi rendition="#g">zwei</hi> Eigenschaften gemein, dass sie aus-<lb/>
gedehnt ist, und dass sie einer äussern Kraft einen gewissen Wider-<lb/>
stand entgegensetzt. Wollen wir daher einen allgemeinen Begriff von<lb/>
der Materie überhaupt gewinnen, so müssen wir unsere Untersuchung<lb/>
zunächst auf diejenigen Kräfte beschränken, durch welche jene beiden<lb/>
Grundeigenschaften der Materie bedingt sind. Die Ansicht, die man<lb/>
hierdurch von dem Wesen der Materie gewinnt, bleibt jedoch desshalb<lb/>
immer eine hypothetische, weil wir auf die Kräfte, die im Innern der<lb/>
Körper wirksam sind, nur aus den Kräften, die nach aussen wirken,<lb/>
zurückschliessen können. Es ist nun eine höchst wahrscheinliche Vor-<lb/>
aussetzung, dass, wie wir die Körper als ganze Anziehungs- und Ab-<lb/>
stossungskräfte äussern sehen, so auch die kleinsten Theile derselben<lb/>
theils mit Anziehungs- theils mit Abstossungskräften begabt sind. So<lb/>
nehmen wir an, dass die <hi rendition="#g">Cohäsion</hi> der Körper auf einer gegensei-<lb/>
tigen Anzeihungskraft ihrer Theile beruht. Ein Körper müsste augen-<lb/>
blicklich in den feinsten Staub zerfallen, wenn jene Anziehung in ihm<lb/>
nicht mehr vorhanden wäre. Dagegen führen wir die <hi rendition="#g">Elasticität</hi><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[14/0036] Von den Naturerscheinungen und Naturgesetzen im Allgemeinen. eine ganz allgemeine Gültigkeit besitzen, von welcher Art die wirken- den Kräfte, und von welcher Beschaffenheit und Vertheilung im Raum die Punkte oder Massen sein mögen, zwischen denen die Kräfte wirken, so müssen wir doch, um jene auf die Naturerscheinungen anwenden zu können, von einer bestimmten Ansicht über die Beschaffenheit der Materie, welche die Trägerin aller Naturkräfte ist, ausgehen. Diese Ansicht kann aber so lange nur als eine hypothetische gelten, als, wie dies gegenwärtig noch der Fall ist, in den Naturerscheinungen zwar genügende Wahrscheinlichkeitsgründe, aber keine zwingenden Beweise für dieselbe gefunden werden können. Wir stellen die jetzt allgemein angenommene Theorie über die physikalische Natur der Ma- terie voran und gehen dann zu einer übersichtlichen Darstellung der allgemeinen Bewegungsgesetze über *). Zweites Capitel. Von der Beschaffenheit der Materie und den Aggregatzuständen. Alles Ausgedehnte im Raume bezeichnen wir als Materie. Wir kennen die Materie nur aus den Kräften, die sie äussert. Wir neh- men die Materie mit unsern Sinnen wahr, wenn bestimmte Kräfte der- selben auf unsere Sinnesorgane einwirken. Wir studiren die physika- lischen Eigenschaften der Materie, indem wir möglichst vollständig die Wirkungsweise ihrer Kräfte zu ermitteln suchen. Die Materie aller Körper hat vorzüglich die zwei Eigenschaften gemein, dass sie aus- gedehnt ist, und dass sie einer äussern Kraft einen gewissen Wider- stand entgegensetzt. Wollen wir daher einen allgemeinen Begriff von der Materie überhaupt gewinnen, so müssen wir unsere Untersuchung zunächst auf diejenigen Kräfte beschränken, durch welche jene beiden Grundeigenschaften der Materie bedingt sind. Die Ansicht, die man hierdurch von dem Wesen der Materie gewinnt, bleibt jedoch desshalb immer eine hypothetische, weil wir auf die Kräfte, die im Innern der Körper wirksam sind, nur aus den Kräften, die nach aussen wirken, zurückschliessen können. Es ist nun eine höchst wahrscheinliche Vor- aussetzung, dass, wie wir die Körper als ganze Anziehungs- und Ab- stossungskräfte äussern sehen, so auch die kleinsten Theile derselben theils mit Anziehungs- theils mit Abstossungskräften begabt sind. So nehmen wir an, dass die Cohäsion der Körper auf einer gegensei- tigen Anzeihungskraft ihrer Theile beruht. Ein Körper müsste augen- blicklich in den feinsten Staub zerfallen, wenn jene Anziehung in ihm nicht mehr vorhanden wäre. Dagegen führen wir die Elasticität *) Den Gegenstand des vorstehenden Capitels in seiner philosophischen Bedeutung findet man erörtert in der Schrift des Verf.: die physikalischen Axiome und ihre Beziehung zum Causalprincip. Erlangen 1866.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_medizinische_1867
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_medizinische_1867/36
Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Handbuch der medicinischen Physik. Erlangen, 1867, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_medizinische_1867/36>, abgerufen am 19.11.2024.