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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Attische dithyramben.
tiker gemeint haben, sondern weil die tänze auf dem runden tanzplatz in
die runde giengen, während im drama eine bude (skene) daneben stand,
die dem schauplatz eine front und einen hintergrund gab. die gedichte
hatten zunächst nicht mehr einen eigenen gattungsnamen, als ihn vorher
die der pindarischen lyrik gehabt hatten. und man wird für die an den
Thargelien wol oft paian, für die der Panathenaeen umnos gesagt haben:
für die dionysischen festlieder vielleicht von vornherein dithurambos; Pin-
dars zweites attisches gedicht (75) war tatsächlich auch in der form dithy-
rambisch. der Dionysosfeste, die der staat begieng, waren mehr als sonst
einem gotte gefeiert worden; so mochte der name dithyrambos durch
verallgemeinerung die ganze gattung allmählich begreifen. immerhin ist
das officiell nie durchgedrungen und in der gewöhnlichen rede erst seit-
dem bedeutende männer diese lyrische poesie, die um 500--430 zurück-
tritt, gewaltig erhoben, so dass sie zuerst die noch berühmtere tragische
schwester beeinflusst, dann, als deren meister tot sind, die erste stelle
im interesse der nation erorbert und auf lange hinaus behauptet. dieser
neue dithyrambos, wesentlich durch Philoxenos und Timotheos geschaffen,
zwar nicht durch Athener, aber doch ein ganz attisches gewächs, wirkt
wesentlich durch die musik; und wenn wir auch selbst kein urteil, weder
über die musik noch über die poesie der neuen dichter haben können,
so zeugt die leidenschaftliche polemik der komödie und der reactionären
musiktheoretiker von ihrer bedeutung. dass sie metrisch die ganze frei-
heit des alten dithyrambos aufgriffen und bis in das ungemessene stei-
gerten, können auch wir noch sehen. und ebenso zeigen einzelne proben,
dass ein sehr starkes mimisches element aus dem drama hinübergezogen
ist, während in andern, wie im Diner des Philoxenos, die person des
dichters so frei sich äussert, wie in der alten zeit. und in der tat hat
diese neue chorpoesie völlig die stelle wieder inne, welche zu Simo-
nides zeiten die alte eingenommen hatte; eben deshalb gerät diese im
4. jahrhundert fast ganz in vergessenheit, wird aber gerade in dorischen
gegenden der neue dithyrambos volkstümlich, wie nur je eine ältere
gattung: selbst in den tälern von Kreta, wohin nicht einmal das epos
gedrungen war, und in Arkadien. mit Dionysos haben die einzelnen
lieder vielleicht zumeist gar nichts zu tun, aber durch das 5. jahrhundert
ist dieser gott der schirmherr jeder chorischen poesie geworden, und so
befremdet es nicht im mindesten, dass der name dithyrambos für das
ganze gilt 41). dieser dithyrambos ist gemeint, wenn Aristoteles den namen

41) Aristoteles braucht dithurambos mit seinen ableitungen in der erweiterten
bedeutung, welcher alle lyrische chorpoesie umfasst, häufig. im eingange der poetik

Attische dithyramben.
tiker gemeint haben, sondern weil die tänze auf dem runden tanzplatz in
die runde giengen, während im drama eine bude (σκηνή) daneben stand,
die dem schauplatz eine front und einen hintergrund gab. die gedichte
hatten zunächst nicht mehr einen eigenen gattungsnamen, als ihn vorher
die der pindarischen lyrik gehabt hatten. und man wird für die an den
Thargelien wol oft παιάν, für die der Panathenaeen ὕμνος gesagt haben:
für die dionysischen festlieder vielleicht von vornherein διϑύραμβος; Pin-
dars zweites attisches gedicht (75) war tatsächlich auch in der form dithy-
rambisch. der Dionysosfeste, die der staat begieng, waren mehr als sonst
einem gotte gefeiert worden; so mochte der name dithyrambos durch
verallgemeinerung die ganze gattung allmählich begreifen. immerhin ist
das officiell nie durchgedrungen und in der gewöhnlichen rede erst seit-
dem bedeutende männer diese lyrische poesie, die um 500—430 zurück-
tritt, gewaltig erhoben, so daſs sie zuerst die noch berühmtere tragische
schwester beeinfluſst, dann, als deren meister tot sind, die erste stelle
im interesse der nation erorbert und auf lange hinaus behauptet. dieser
neue dithyrambos, wesentlich durch Philoxenos und Timotheos geschaffen,
zwar nicht durch Athener, aber doch ein ganz attisches gewächs, wirkt
wesentlich durch die musik; und wenn wir auch selbst kein urteil, weder
über die musik noch über die poesie der neuen dichter haben können,
so zeugt die leidenschaftliche polemik der komödie und der reactionären
musiktheoretiker von ihrer bedeutung. daſs sie metrisch die ganze frei-
heit des alten dithyrambos aufgriffen und bis in das ungemessene stei-
gerten, können auch wir noch sehen. und ebenso zeigen einzelne proben,
daſs ein sehr starkes mimisches element aus dem drama hinübergezogen
ist, während in andern, wie im Diner des Philoxenos, die person des
dichters so frei sich äuſsert, wie in der alten zeit. und in der tat hat
diese neue chorpoesie völlig die stelle wieder inne, welche zu Simo-
nides zeiten die alte eingenommen hatte; eben deshalb gerät diese im
4. jahrhundert fast ganz in vergessenheit, wird aber gerade in dorischen
gegenden der neue dithyrambos volkstümlich, wie nur je eine ältere
gattung: selbst in den tälern von Kreta, wohin nicht einmal das epos
gedrungen war, und in Arkadien. mit Dionysos haben die einzelnen
lieder vielleicht zumeist gar nichts zu tun, aber durch das 5. jahrhundert
ist dieser gott der schirmherr jeder chorischen poesie geworden, und so
befremdet es nicht im mindesten, daſs der name dithyrambos für das
ganze gilt 41). dieser dithyrambos ist gemeint, wenn Aristoteles den namen

41) Aristoteles braucht διϑύραμβος mit seinen ableitungen in der erweiterten
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[79/0099] Attische dithyramben. tiker gemeint haben, sondern weil die tänze auf dem runden tanzplatz in die runde giengen, während im drama eine bude (σκηνή) daneben stand, die dem schauplatz eine front und einen hintergrund gab. die gedichte hatten zunächst nicht mehr einen eigenen gattungsnamen, als ihn vorher die der pindarischen lyrik gehabt hatten. und man wird für die an den Thargelien wol oft παιάν, für die der Panathenaeen ὕμνος gesagt haben: für die dionysischen festlieder vielleicht von vornherein διϑύραμβος; Pin- dars zweites attisches gedicht (75) war tatsächlich auch in der form dithy- rambisch. der Dionysosfeste, die der staat begieng, waren mehr als sonst einem gotte gefeiert worden; so mochte der name dithyrambos durch verallgemeinerung die ganze gattung allmählich begreifen. immerhin ist das officiell nie durchgedrungen und in der gewöhnlichen rede erst seit- dem bedeutende männer diese lyrische poesie, die um 500—430 zurück- tritt, gewaltig erhoben, so daſs sie zuerst die noch berühmtere tragische schwester beeinfluſst, dann, als deren meister tot sind, die erste stelle im interesse der nation erorbert und auf lange hinaus behauptet. dieser neue dithyrambos, wesentlich durch Philoxenos und Timotheos geschaffen, zwar nicht durch Athener, aber doch ein ganz attisches gewächs, wirkt wesentlich durch die musik; und wenn wir auch selbst kein urteil, weder über die musik noch über die poesie der neuen dichter haben können, so zeugt die leidenschaftliche polemik der komödie und der reactionären musiktheoretiker von ihrer bedeutung. daſs sie metrisch die ganze frei- heit des alten dithyrambos aufgriffen und bis in das ungemessene stei- gerten, können auch wir noch sehen. und ebenso zeigen einzelne proben, daſs ein sehr starkes mimisches element aus dem drama hinübergezogen ist, während in andern, wie im Diner des Philoxenos, die person des dichters so frei sich äuſsert, wie in der alten zeit. und in der tat hat diese neue chorpoesie völlig die stelle wieder inne, welche zu Simo- nides zeiten die alte eingenommen hatte; eben deshalb gerät diese im 4. jahrhundert fast ganz in vergessenheit, wird aber gerade in dorischen gegenden der neue dithyrambos volkstümlich, wie nur je eine ältere gattung: selbst in den tälern von Kreta, wohin nicht einmal das epos gedrungen war, und in Arkadien. mit Dionysos haben die einzelnen lieder vielleicht zumeist gar nichts zu tun, aber durch das 5. jahrhundert ist dieser gott der schirmherr jeder chorischen poesie geworden, und so befremdet es nicht im mindesten, daſs der name dithyrambos für das ganze gilt 41). dieser dithyrambos ist gemeint, wenn Aristoteles den namen 41) Aristoteles braucht διϑύραμβος mit seinen ableitungen in der erweiterten bedeutung, welcher alle lyrische chorpoesie umfaſst, häufig. im eingange der poetik

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/99>, abgerufen am 26.04.2024.