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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Fundamentale tatsachen.
rial hat er selbst oder seine schule dem publicum in mehreren bänden
vorgelegt, und die tüchtigsten gelehrten der nächsten generationen haben
es viel benutzt; dann ist es wie die meisten ähnlichen stoffsammlungen
verschollen. übrigens hat der attische staat, wahrscheinlich gelegentlich
der erbauung des steinernen theaters (vollendet 330), auch eine solche
festchronik und ähnliche verzeichnisse in stein gehauen im heiligen be-
zirke aufstellen lassen, vielleicht beeinflusst von dem aristotelischen geiste.
reste davon sind uns erhalten sowol im original wie in copien römischer
zeit 8); auch vereinzelte inschriften von siegesdenkmälern besitzen wir.
dieser ganze strom der überlieferung ist also ein einheitlicher. was dazu
gehört, ist auch leicht kenntlich, wenn es bei späten compilatoren er-
halten ist, und wir dürfen uns mit besonderer zuversicht auf diese angaben
verlassen. danach also reihen wir ein, dass die erste tragödie von Thespis
an den grossen Dionysien 534 aufgeführt ist, 508 der erste dithyrambos
durch Hypodikos von Chalkis, dass eine neuorganisation der schauspiele
um 465 stattgefunden hat, bei welcher sicher die erste komödie gespielt
ward, wahrscheinlich auch die tragödie durch die einführung des dritten
schauspielers ihre definitive gestalt erhielt 9). das ist unser fundament.
mit eiserner strenge muss alles verworfen werden, was sich mit diesen
grundtatsachen nicht verträgt; an ihnen darf nichts verrückt noch ver-
schoben werden. es liegt aber auf der hand, dass sie nicht ausreichen,
um wirklich einen aufriss von dem alten gebäude zu errichten, wir müssen
mehr material suchen.

Das wird manchen weg und umweg kosten; es scheint sogar geraten,
zunächst einen holzweg einzuschlagen, weil in der litteraturgeschichte
die holzwege die betretensten zu sein pflegen. die komödie ist viel
verständlicher als die tragödie: fangen wir mit ihr an. das muss dem
modernen doch sehr aussichtsvoll erscheinen. denn wir sehen mit recht

unklar bliebe, wo die grenze zwischen den pflichten der beamten und der choregen
war. da einzelne angaben auch aus der zeit vor 480 erhalten sind, muss man an-
nehmen, dass die archive vor den Persern gerettet waren, was ja auch nur natür-
lich ist. aber sie werden für die alte zeit längst nicht so reich gewesen sein.
dramentitel von Thespis z. b. hatten sich sicherlich nicht erhalten, da man deren
früh erfunden hat. und es dürfte ähnlich mit Choirilos u. a. stehen. auch dichter-
namen für die tragödie sind auffällig wenig erhalten und nur solche, von denen
sich auch vereinzelte werke bis auf die Peripatetiker gerettet hatten.
8) Zu den altbekannten stücken dieser classe CIG. 229, 230 ist jüngst ein neues
bruchstück getreten (Notizie degli scavi 1888, 190), auf dem aber nur so viel kenntlich
ist dass es hierher gehört.
9) Näheres Hermes 21 'die bühne des Aischylos'.
4*

Fundamentale tatsachen.
rial hat er selbst oder seine schule dem publicum in mehreren bänden
vorgelegt, und die tüchtigsten gelehrten der nächsten generationen haben
es viel benutzt; dann ist es wie die meisten ähnlichen stoffsammlungen
verschollen. übrigens hat der attische staat, wahrscheinlich gelegentlich
der erbauung des steinernen theaters (vollendet 330), auch eine solche
festchronik und ähnliche verzeichnisse in stein gehauen im heiligen be-
zirke aufstellen lassen, vielleicht beeinfluſst von dem aristotelischen geiste.
reste davon sind uns erhalten sowol im original wie in copien römischer
zeit 8); auch vereinzelte inschriften von siegesdenkmälern besitzen wir.
dieser ganze strom der überlieferung ist also ein einheitlicher. was dazu
gehört, ist auch leicht kenntlich, wenn es bei späten compilatoren er-
halten ist, und wir dürfen uns mit besonderer zuversicht auf diese angaben
verlassen. danach also reihen wir ein, daſs die erste tragödie von Thespis
an den groſsen Dionysien 534 aufgeführt ist, 508 der erste dithyrambos
durch Hypodikos von Chalkis, daſs eine neuorganisation der schauspiele
um 465 stattgefunden hat, bei welcher sicher die erste komödie gespielt
ward, wahrscheinlich auch die tragödie durch die einführung des dritten
schauspielers ihre definitive gestalt erhielt 9). das ist unser fundament.
mit eiserner strenge muſs alles verworfen werden, was sich mit diesen
grundtatsachen nicht verträgt; an ihnen darf nichts verrückt noch ver-
schoben werden. es liegt aber auf der hand, daſs sie nicht ausreichen,
um wirklich einen aufriſs von dem alten gebäude zu errichten, wir müssen
mehr material suchen.

Das wird manchen weg und umweg kosten; es scheint sogar geraten,
zunächst einen holzweg einzuschlagen, weil in der litteraturgeschichte
die holzwege die betretensten zu sein pflegen. die komödie ist viel
verständlicher als die tragödie: fangen wir mit ihr an. das muſs dem
modernen doch sehr aussichtsvoll erscheinen. denn wir sehen mit recht

unklar bliebe, wo die grenze zwischen den pflichten der beamten und der choregen
war. da einzelne angaben auch aus der zeit vor 480 erhalten sind, muſs man an-
nehmen, daſs die archive vor den Persern gerettet waren, was ja auch nur natür-
lich ist. aber sie werden für die alte zeit längst nicht so reich gewesen sein.
dramentitel von Thespis z. b. hatten sich sicherlich nicht erhalten, da man deren
früh erfunden hat. und es dürfte ähnlich mit Choirilos u. a. stehen. auch dichter-
namen für die tragödie sind auffällig wenig erhalten und nur solche, von denen
sich auch vereinzelte werke bis auf die Peripatetiker gerettet hatten.
8) Zu den altbekannten stücken dieser classe CIG. 229, 230 ist jüngst ein neues
bruchstück getreten (Notizie degli scavi 1888, 190), auf dem aber nur so viel kenntlich
ist daſs es hierher gehört.
9) Näheres Hermes 21 ‘die bühne des Aischylos’.
4*
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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/71>, abgerufen am 26.04.2024.