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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der Herakles des Euripides.
vollen leben schöpft, und die stimmungen und strebungen seines volkes
aufnimmt und dem volke gestaltet zurückgibt. was vor zeitlos absoluter
kritik nicht besteht, gewinnt für die geschichtliche betrachtung einen be-
sonderen wert, und wir hören auf, den dichter zu schelten, wenn wir
uns vorstellen, wie laut der beifall der anhänger des Demosthenes ge-
klungen haben wird; hätten sie nur auch die majorität in der volksver-
sammlung gehabt. aber ein festes chronologisches indicium gewinnen
wir damit noch nicht; nur so viel mögen wir sagen, dass seit der alles
interesse auf sich ziehenden sicilischen expedition, und gar während des
folgenden seekrieges kein raum mehr für diese debatten war, während
die nächsten jahre nach Sphakteria und Delion die angemessensten scheinen.
aber selbst so bleibt der spielraum 423--416. und selbst dieses nur, weil
das lied vom alter verbietet, höher hinaufzugehen. an sich dürfte man
wol für minder wahrscheinlich, aber nicht für unmöglich erklären, dass
Euripides die theoretischen gegensätze auf der bühne früher behandelt
hätte, als die kriegerischen ereignisse sie praktisch hervortreten liessen.

Eine andere zeitbestimmung hat man darin finden wollen, dass der
chor v. 687 den paean erwähnt, welchen die Deliades dem Apollon
singen. derselben tut auch der chor der Hekabe erwähnung, 453; die
troischen gefangenen erwarten sin Deliasin kourais die heiligen er-
innerungen der insel verherrlichen zu sollen: es waren also zu diesem
dienste ausser den delischen mädchen auch hierodulen herbeigezogen,
welche im Herakles in der bezeichnung Deliades amphipoloi mit ein-
begriffen sind 10). nun hat man hierin einen hinweis auf die stiftung des
prächtigen vierjährigen festes der Delien gesehen, welche die Athener
im frühjahr 425 vornahmen (Thuk. III 104). aber eine directe beziehung
würde nur vorliegen, wenn Euripides attische chöre in Delos oder auch

10) Das wort amphipoloi entstammt im texte des Herakles einer conjectur,
welche dem überlieferten Deliades das unentbehrliche substantiv liefert, aber ohne
kenntnis der tatsächlichen delischen verhältnisse gemacht ist. und für die spätere
zeit der delischen freiheit wird auch niemand glauben, dass die delischen mädchen
sclavinnen mit in ihren chor aufgenommen hätten, obwol die ganze bürgerschaft
dort in wahrheit nur eine sippe schmarotzender küster war. aber für seine zeit
bezeugt Euripides in der Hekabe die beteiligung von hierodulen, und das ist auch
begreiflich; man denke an die von Pindar und Simonides verherrlichten korinthischen
dienerinnen Aphrodites. zur zeit der vertreibung der Delier vollends müssen ja die
Athener für die Deliades einen ersatz geschaffen haben. die Hekabe bezeugt auch,
dass sclavinnen an der herstellung des peplos für die Athena Polias mitwirkten: im
2. jahrhundert v. Chr. ist das ein vorrecht nicht nur freier sondern vornehmer, viel-
leicht gar eupatridischer Athenerinnen. Köhler, Mitteil. Ath. VIII 57.

Der Herakles des Euripides.
vollen leben schöpft, und die stimmungen und strebungen seines volkes
aufnimmt und dem volke gestaltet zurückgibt. was vor zeitlos absoluter
kritik nicht besteht, gewinnt für die geschichtliche betrachtung einen be-
sonderen wert, und wir hören auf, den dichter zu schelten, wenn wir
uns vorstellen, wie laut der beifall der anhänger des Demosthenes ge-
klungen haben wird; hätten sie nur auch die majorität in der volksver-
sammlung gehabt. aber ein festes chronologisches indicium gewinnen
wir damit noch nicht; nur so viel mögen wir sagen, daſs seit der alles
interesse auf sich ziehenden sicilischen expedition, und gar während des
folgenden seekrieges kein raum mehr für diese debatten war, während
die nächsten jahre nach Sphakteria und Delion die angemessensten scheinen.
aber selbst so bleibt der spielraum 423—416. und selbst dieses nur, weil
das lied vom alter verbietet, höher hinaufzugehen. an sich dürfte man
wol für minder wahrscheinlich, aber nicht für unmöglich erklären, daſs
Euripides die theoretischen gegensätze auf der bühne früher behandelt
hätte, als die kriegerischen ereignisse sie praktisch hervortreten lieſsen.

Eine andere zeitbestimmung hat man darin finden wollen, daſs der
chor v. 687 den paean erwähnt, welchen die Δηλιάδες dem Apollon
singen. derselben tut auch der chor der Hekabe erwähnung, 453; die
troischen gefangenen erwarten σὶν Δηλιάσιν κούραις die heiligen er-
innerungen der insel verherrlichen zu sollen: es waren also zu diesem
dienste auſser den delischen mädchen auch hierodulen herbeigezogen,
welche im Herakles in der bezeichnung Δηλιάδες ἀμφίπολοι mit ein-
begriffen sind 10). nun hat man hierin einen hinweis auf die stiftung des
prächtigen vierjährigen festes der Delien gesehen, welche die Athener
im frühjahr 425 vornahmen (Thuk. III 104). aber eine directe beziehung
würde nur vorliegen, wenn Euripides attische chöre in Delos oder auch

10) Das wort ἀμφίπολοι entstammt im texte des Herakles einer conjectur,
welche dem überlieferten Δηλιάδες das unentbehrliche substantiv liefert, aber ohne
kenntnis der tatsächlichen delischen verhältnisse gemacht ist. und für die spätere
zeit der delischen freiheit wird auch niemand glauben, daſs die delischen mädchen
sclavinnen mit in ihren chor aufgenommen hätten, obwol die ganze bürgerschaft
dort in wahrheit nur eine sippe schmarotzender küster war. aber für seine zeit
bezeugt Euripides in der Hekabe die beteiligung von hierodulen, und das ist auch
begreiflich; man denke an die von Pindar und Simonides verherrlichten korinthischen
dienerinnen Aphrodites. zur zeit der vertreibung der Delier vollends müssen ja die
Athener für die Δηλιάδες einen ersatz geschaffen haben. die Hekabe bezeugt auch,
daſs sclavinnen an der herstellung des peplos für die Athena Polias mitwirkten: im
2. jahrhundert v. Chr. ist das ein vorrecht nicht nur freier sondern vornehmer, viel-
leicht gar eupatridischer Athenerinnen. Köhler, Mitteil. Ath. VIII 57.
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[346/0366] Der Herakles des Euripides. vollen leben schöpft, und die stimmungen und strebungen seines volkes aufnimmt und dem volke gestaltet zurückgibt. was vor zeitlos absoluter kritik nicht besteht, gewinnt für die geschichtliche betrachtung einen be- sonderen wert, und wir hören auf, den dichter zu schelten, wenn wir uns vorstellen, wie laut der beifall der anhänger des Demosthenes ge- klungen haben wird; hätten sie nur auch die majorität in der volksver- sammlung gehabt. aber ein festes chronologisches indicium gewinnen wir damit noch nicht; nur so viel mögen wir sagen, daſs seit der alles interesse auf sich ziehenden sicilischen expedition, und gar während des folgenden seekrieges kein raum mehr für diese debatten war, während die nächsten jahre nach Sphakteria und Delion die angemessensten scheinen. aber selbst so bleibt der spielraum 423—416. und selbst dieses nur, weil das lied vom alter verbietet, höher hinaufzugehen. an sich dürfte man wol für minder wahrscheinlich, aber nicht für unmöglich erklären, daſs Euripides die theoretischen gegensätze auf der bühne früher behandelt hätte, als die kriegerischen ereignisse sie praktisch hervortreten lieſsen. Eine andere zeitbestimmung hat man darin finden wollen, daſs der chor v. 687 den paean erwähnt, welchen die Δηλιάδες dem Apollon singen. derselben tut auch der chor der Hekabe erwähnung, 453; die troischen gefangenen erwarten σὶν Δηλιάσιν κούραις die heiligen er- innerungen der insel verherrlichen zu sollen: es waren also zu diesem dienste auſser den delischen mädchen auch hierodulen herbeigezogen, welche im Herakles in der bezeichnung Δηλιάδες ἀμφίπολοι mit ein- begriffen sind 10). nun hat man hierin einen hinweis auf die stiftung des prächtigen vierjährigen festes der Delien gesehen, welche die Athener im frühjahr 425 vornahmen (Thuk. III 104). aber eine directe beziehung würde nur vorliegen, wenn Euripides attische chöre in Delos oder auch 10) Das wort ἀμφίπολοι entstammt im texte des Herakles einer conjectur, welche dem überlieferten Δηλιάδες das unentbehrliche substantiv liefert, aber ohne kenntnis der tatsächlichen delischen verhältnisse gemacht ist. und für die spätere zeit der delischen freiheit wird auch niemand glauben, daſs die delischen mädchen sclavinnen mit in ihren chor aufgenommen hätten, obwol die ganze bürgerschaft dort in wahrheit nur eine sippe schmarotzender küster war. aber für seine zeit bezeugt Euripides in der Hekabe die beteiligung von hierodulen, und das ist auch begreiflich; man denke an die von Pindar und Simonides verherrlichten korinthischen dienerinnen Aphrodites. zur zeit der vertreibung der Delier vollends müssen ja die Athener für die Δηλιάδες einen ersatz geschaffen haben. die Hekabe bezeugt auch, daſs sclavinnen an der herstellung des peplos für die Athena Polias mitwirkten: im 2. jahrhundert v. Chr. ist das ein vorrecht nicht nur freier sondern vornehmer, viel- leicht gar eupatridischer Athenerinnen. Köhler, Mitteil. Ath. VIII 57.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 346. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/366>, abgerufen am 26.04.2024.