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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Deutungen der sage seit dem altertum.
während zu dem gotte die menschen in leid und freud sich hielten, denen
er als solcher von den vätern her vertraut war, unbekümmert um das
was die philosophen in ihm suchten oder die dichter von ihm fabelten:
da war er eben gott; das genügte der frömmigkeit, die glücklicherweise
trotz jeder theologie bestehen bleibt.

Die theologen oder, wenn man das lieber hört, die mythologenDeutungen
der sage
seit dem
altertum.

versuchten sich auch seit den Stoikern, den erben der Kyniker, an dieser
wie an jeder gestalt des volksglaubens und bemühten sich die fülle der
erscheinungen mit einer formel zu erklären. da ward Herakles der theios
logos oder das feuer oder die sonne. man sieht, das ganz moderne ist
in wahrheit alles schon da gewesen. interessanter ist vielleicht der versuch
des gnostikers Iustin den kynischen Herakles als einen gewaltigen diener
des Eloeim (des gnostischen 'vaters'), den grössten vor Jesus, in die
neue religion aufzunehmen 128). darin liegt viel mehr wahrheit als in den
physischen oder metaphysischen formeln: da ist doch wenigstens das
göttliche als sittliche potenz gedacht. Kleanthes Chrysippos und ihre
modernen adepten gehen von der voraussetzung aus, dass die sagen eine
hülle sind, unter welcher alte weisheit sehr einfache dinge verborgen hat.
und der ungläubige gelehrte findet einen schlüssel, ein zauberkräftiges
wort, da öffnet sich das verschlossene dem verständnis, der schleier vom
bilde von Sais fällt ab, und man sieht zu seiner befriedigung, dass eigent-
lich nichts rechtes dahinter war. aber sehr scharfsinnig ist, wer dahinter
kommt. mit dieser betrachtungsweise und ihrer selbstgefälligen erhaben-
heit kann nicht concurriren, wer sich dabei bescheidet, dass er die em-
pfindung, welche vergangene geschlechter in dichterischem bilde nieder-
gelegt haben, in sich selbst zu erzeugen versucht, indem er sich möglichst
aller concreten factoren des lebens und glaubens bemächtigt, welche einst

128) Hippol. Refut. V 26. Elohim hat mit Eden (der Erde) in seltsamer weise
den menschen gezeugt, sich aber dann in den himmel an die seite des 'Guten gottes'
erhoben; ihm folgen seine 12 söhne; ihr gehören auch 12, mit und durch welche
sie auf erden regiert. vergebens schickt Elohim den engel Baruch, u. a. zu Moses
und den Propheten. da erweckt sich Elohim aus der Vorhaut einen grossen propheten,
Herakles, der besiegt die 12 Erdensöhne (die metrikoi aggeloi): das sind die 12 kämpfe.
und er würde die welt erlöst haben, wenn nicht Omphale = Babel = Aphrodite, die
sinneslust, ihn bezwungen hätte. so bedurfte das erlösungswerk der vollendung, die
es fand, als der engel Baruch den 12 jährigen zimmermannssohn Jesus von Nazaret
aufgesucht und ihm die wahrheit verkündet hatte. der liess sich nicht verlocken,
deshalb schlug ihn der höchste der metrikoi aggeloi Naas ans kreuz. da starb er,
d. h. er liess den irdischen toten leib mit den worten 'weib, da hast du deinen sohn
(Joh. 19, 26)' zurück und schwang sich empor zum 'guten gotte'. Justin hat in
seinem buche die meisten hellenischen sagen in ähnlicher weise umgedeutet.
v. Wilamowitz I. 22

Deutungen der sage seit dem altertum.
während zu dem gotte die menschen in leid und freud sich hielten, denen
er als solcher von den vätern her vertraut war, unbekümmert um das
was die philosophen in ihm suchten oder die dichter von ihm fabelten:
da war er eben gott; das genügte der frömmigkeit, die glücklicherweise
trotz jeder theologie bestehen bleibt.

Die theologen oder, wenn man das lieber hört, die mythologenDeutungen
der sage
seit dem
altertum.

versuchten sich auch seit den Stoikern, den erben der Kyniker, an dieser
wie an jeder gestalt des volksglaubens und bemühten sich die fülle der
erscheinungen mit einer formel zu erklären. da ward Herakles der ϑεῖος
λόγος oder das feuer oder die sonne. man sieht, das ganz moderne ist
in wahrheit alles schon da gewesen. interessanter ist vielleicht der versuch
des gnostikers Iustin den kynischen Herakles als einen gewaltigen diener
des Ἐλωείμ (des gnostischen ‘vaters’), den gröſsten vor Jesus, in die
neue religion aufzunehmen 128). darin liegt viel mehr wahrheit als in den
physischen oder metaphysischen formeln: da ist doch wenigstens das
göttliche als sittliche potenz gedacht. Kleanthes Chrysippos und ihre
modernen adepten gehen von der voraussetzung aus, daſs die sagen eine
hülle sind, unter welcher alte weisheit sehr einfache dinge verborgen hat.
und der ungläubige gelehrte findet einen schlüssel, ein zauberkräftiges
wort, da öffnet sich das verschlossene dem verständnis, der schleier vom
bilde von Sais fällt ab, und man sieht zu seiner befriedigung, daſs eigent-
lich nichts rechtes dahinter war. aber sehr scharfsinnig ist, wer dahinter
kommt. mit dieser betrachtungsweise und ihrer selbstgefälligen erhaben-
heit kann nicht concurriren, wer sich dabei bescheidet, daſs er die em-
pfindung, welche vergangene geschlechter in dichterischem bilde nieder-
gelegt haben, in sich selbst zu erzeugen versucht, indem er sich möglichst
aller concreten factoren des lebens und glaubens bemächtigt, welche einst

128) Hippol. Refut. V 26. Elohim hat mit Eden (der Erde) in seltsamer weise
den menschen gezeugt, sich aber dann in den himmel an die seite des ‘Guten gottes’
erhoben; ihm folgen seine 12 söhne; ihr gehören auch 12, mit und durch welche
sie auf erden regiert. vergebens schickt Elohim den engel Baruch, u. a. zu Moses
und den Propheten. da erweckt sich Elohim aus der Vorhaut einen groſsen propheten,
Herakles, der besiegt die 12 Erdensöhne (die μητρικοὶ ἄγγελοι): das sind die 12 kämpfe.
und er würde die welt erlöst haben, wenn nicht Ὀμφάλη = Βαβέλ = Ἀφροδίτη, die
sinneslust, ihn bezwungen hätte. so bedurfte das erlösungswerk der vollendung, die
es fand, als der engel Baruch den 12 jährigen zimmermannssohn Jesus von Nazaret
aufgesucht und ihm die wahrheit verkündet hatte. der lieſs sich nicht verlocken,
deshalb schlug ihn der höchste der μητρικοὶ ἄγγελοι Naas ans kreuz. da starb er,
d. h. er lieſs den irdischen toten leib mit den worten ‘weib, da hast du deinen sohn
(Joh. 19, 26)’ zurück und schwang sich empor zum ‘guten gotte’. Justin hat in
seinem buche die meisten hellenischen sagen in ähnlicher weise umgedeutet.
v. Wilamowitz I. 22
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[337/0357] Deutungen der sage seit dem altertum. während zu dem gotte die menschen in leid und freud sich hielten, denen er als solcher von den vätern her vertraut war, unbekümmert um das was die philosophen in ihm suchten oder die dichter von ihm fabelten: da war er eben gott; das genügte der frömmigkeit, die glücklicherweise trotz jeder theologie bestehen bleibt. Die theologen oder, wenn man das lieber hört, die mythologen versuchten sich auch seit den Stoikern, den erben der Kyniker, an dieser wie an jeder gestalt des volksglaubens und bemühten sich die fülle der erscheinungen mit einer formel zu erklären. da ward Herakles der ϑεῖος λόγος oder das feuer oder die sonne. man sieht, das ganz moderne ist in wahrheit alles schon da gewesen. interessanter ist vielleicht der versuch des gnostikers Iustin den kynischen Herakles als einen gewaltigen diener des Ἐλωείμ (des gnostischen ‘vaters’), den gröſsten vor Jesus, in die neue religion aufzunehmen 128). darin liegt viel mehr wahrheit als in den physischen oder metaphysischen formeln: da ist doch wenigstens das göttliche als sittliche potenz gedacht. Kleanthes Chrysippos und ihre modernen adepten gehen von der voraussetzung aus, daſs die sagen eine hülle sind, unter welcher alte weisheit sehr einfache dinge verborgen hat. und der ungläubige gelehrte findet einen schlüssel, ein zauberkräftiges wort, da öffnet sich das verschlossene dem verständnis, der schleier vom bilde von Sais fällt ab, und man sieht zu seiner befriedigung, daſs eigent- lich nichts rechtes dahinter war. aber sehr scharfsinnig ist, wer dahinter kommt. mit dieser betrachtungsweise und ihrer selbstgefälligen erhaben- heit kann nicht concurriren, wer sich dabei bescheidet, daſs er die em- pfindung, welche vergangene geschlechter in dichterischem bilde nieder- gelegt haben, in sich selbst zu erzeugen versucht, indem er sich möglichst aller concreten factoren des lebens und glaubens bemächtigt, welche einst Deutungen der sage seit dem altertum. 128) Hippol. Refut. V 26. Elohim hat mit Eden (der Erde) in seltsamer weise den menschen gezeugt, sich aber dann in den himmel an die seite des ‘Guten gottes’ erhoben; ihm folgen seine 12 söhne; ihr gehören auch 12, mit und durch welche sie auf erden regiert. vergebens schickt Elohim den engel Baruch, u. a. zu Moses und den Propheten. da erweckt sich Elohim aus der Vorhaut einen groſsen propheten, Herakles, der besiegt die 12 Erdensöhne (die μητρικοὶ ἄγγελοι): das sind die 12 kämpfe. und er würde die welt erlöst haben, wenn nicht Ὀμφάλη = Βαβέλ = Ἀφροδίτη, die sinneslust, ihn bezwungen hätte. so bedurfte das erlösungswerk der vollendung, die es fand, als der engel Baruch den 12 jährigen zimmermannssohn Jesus von Nazaret aufgesucht und ihm die wahrheit verkündet hatte. der lieſs sich nicht verlocken, deshalb schlug ihn der höchste der μητρικοὶ ἄγγελοι Naas ans kreuz. da starb er, d. h. er lieſs den irdischen toten leib mit den worten ‘weib, da hast du deinen sohn (Joh. 19, 26)’ zurück und schwang sich empor zum ‘guten gotte’. Justin hat in seinem buche die meisten hellenischen sagen in ähnlicher weise umgedeutet. v. Wilamowitz I. 22

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/357>, abgerufen am 26.04.2024.