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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der Herakles der sage.
selbst Sparta Messenien Olympia Theben Delphi Athen nicht hinein. und
doch haben sich die argolischen ansprüche auf die hegemonie der halb-
insel in Heraklessagen niedergeschlagen, hat der argolische Herakles Hip-
pokoon Eurytos Neleus die Molioniden bezwungen: davon ist in diesem
cyclus keine spur. da mag man manches auf den willen des dichters
setzen, der in der tat die religiöse figur des so zu sagen universalen
heros darstellen wollte, nicht den vertreter des Dorertums (um so sichrer
muss, wer so schliesst, an einem bewusst gestaltenden dichterwillen fest
halten): auf die zeit und den ort, wo man so dichten konnte, bleibt der
schluss unbeeinträchtigt. ja man muss sagen, dass die stadt Argos, die
doch, so weit wir die geschichte kennen, das centrum des Dorertums ist,
neben Mykene so gut wie gar nicht in betracht kommt, so dass man
in versuchung ist, geradezu einen Dorer aus Mykene als dichter anzu-
nehmen. wer diese verhältnisse abzuwägen urteilskraft kenntnis und guten
willen hat, kann gar nicht anders urteilen, als das 8. jahrhundert als
untere grenze für die entstehungszeit dieser grossartig einfachen dichtung
anzusehen.

Das versteht sich von selbst, dass diesem dichter auch schon geformtes
material vorlag. die alte sage seiner ahnen und eltern lieferte ihm das
beste. einzelne taten sind ohne frage schon vorher erzählt, denn sie
erwuchsen aus den concreten örtlichen verhältnissen. andere übernahm
er aus anderen sagen. es kann ja jemand sagen, dass ihm zehn kämpfe
(ohne stier und Amazonen) oder neun (auch ohne die rosse) einen älteren
stamm zu bilden schienen. das mag er zu beweisen versuchen, der beweis
mag auch gelingen: daran ändert er nichts, dass eine dichtung von Herakles
leben in so alter zeit, in der Argolis, mit der bestimmten tendenz und mit
dem durchschlagenden erfolge anzunehmen ist. und diesen erfolg hat erst
der dodekathlos gehabt.

Die
Herakleen.

Unabweisbar tritt da die frage hervor: welcher art war die form der
dichtung, und wie ist der dichter zu denken? die antwort wird unbefriedigend
lauten, aber der versuch muss gemacht werden. zunächst fragt man nach
den Heraklesepen, von denen uns eine kunde geblieben ist. wir wissen
sehr wenig, aber genug, um sie alle auszuschliessen. in den romantischen
bestrebungen des 3. jahrhunderts, die bei den kleinasiatischen Dorern
besonders lebhaft waren, hat man auf Rhodos ein nicht eben umfang-
reiches altes gedicht hervorgezogen, von dem in älterer zeit nicht die
leiseste spur ist. die Rhodier schrieben es jetzt einem gewissen Peisandros
von Kamiros zu und setzten dem plötzlich auftauchenden dorischen Homer
eine statue. die grammatiker wussten wol, dass dieser verfassername nicht

Der Herakles der sage.
selbst Sparta Messenien Olympia Theben Delphi Athen nicht hinein. und
doch haben sich die argolischen ansprüche auf die hegemonie der halb-
insel in Heraklessagen niedergeschlagen, hat der argolische Herakles Hip-
pokoon Eurytos Neleus die Molioniden bezwungen: davon ist in diesem
cyclus keine spur. da mag man manches auf den willen des dichters
setzen, der in der tat die religiöse figur des so zu sagen universalen
heros darstellen wollte, nicht den vertreter des Dorertums (um so sichrer
muſs, wer so schlieſst, an einem bewuſst gestaltenden dichterwillen fest
halten): auf die zeit und den ort, wo man so dichten konnte, bleibt der
schluſs unbeeinträchtigt. ja man muſs sagen, daſs die stadt Argos, die
doch, so weit wir die geschichte kennen, das centrum des Dorertums ist,
neben Mykene so gut wie gar nicht in betracht kommt, so daſs man
in versuchung ist, geradezu einen Dorer aus Mykene als dichter anzu-
nehmen. wer diese verhältnisse abzuwägen urteilskraft kenntnis und guten
willen hat, kann gar nicht anders urteilen, als das 8. jahrhundert als
untere grenze für die entstehungszeit dieser groſsartig einfachen dichtung
anzusehen.

Das versteht sich von selbst, daſs diesem dichter auch schon geformtes
material vorlag. die alte sage seiner ahnen und eltern lieferte ihm das
beste. einzelne taten sind ohne frage schon vorher erzählt, denn sie
erwuchsen aus den concreten örtlichen verhältnissen. andere übernahm
er aus anderen sagen. es kann ja jemand sagen, daſs ihm zehn kämpfe
(ohne stier und Amazonen) oder neun (auch ohne die rosse) einen älteren
stamm zu bilden schienen. das mag er zu beweisen versuchen, der beweis
mag auch gelingen: daran ändert er nichts, daſs eine dichtung von Herakles
leben in so alter zeit, in der Argolis, mit der bestimmten tendenz und mit
dem durchschlagenden erfolge anzunehmen ist. und diesen erfolg hat erst
der dodekathlos gehabt.

Die
Herakleen.

Unabweisbar tritt da die frage hervor: welcher art war die form der
dichtung, und wie ist der dichter zu denken? die antwort wird unbefriedigend
lauten, aber der versuch muſs gemacht werden. zunächst fragt man nach
den Heraklesepen, von denen uns eine kunde geblieben ist. wir wissen
sehr wenig, aber genug, um sie alle auszuschlieſsen. in den romantischen
bestrebungen des 3. jahrhunderts, die bei den kleinasiatischen Dorern
besonders lebhaft waren, hat man auf Rhodos ein nicht eben umfang-
reiches altes gedicht hervorgezogen, von dem in älterer zeit nicht die
leiseste spur ist. die Rhodier schrieben es jetzt einem gewissen Peisandros
von Kamiros zu und setzten dem plötzlich auftauchenden dorischen Homer
eine statue. die grammatiker wuſsten wol, daſs dieser verfassername nicht

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[308/0328] Der Herakles der sage. selbst Sparta Messenien Olympia Theben Delphi Athen nicht hinein. und doch haben sich die argolischen ansprüche auf die hegemonie der halb- insel in Heraklessagen niedergeschlagen, hat der argolische Herakles Hip- pokoon Eurytos Neleus die Molioniden bezwungen: davon ist in diesem cyclus keine spur. da mag man manches auf den willen des dichters setzen, der in der tat die religiöse figur des so zu sagen universalen heros darstellen wollte, nicht den vertreter des Dorertums (um so sichrer muſs, wer so schlieſst, an einem bewuſst gestaltenden dichterwillen fest halten): auf die zeit und den ort, wo man so dichten konnte, bleibt der schluſs unbeeinträchtigt. ja man muſs sagen, daſs die stadt Argos, die doch, so weit wir die geschichte kennen, das centrum des Dorertums ist, neben Mykene so gut wie gar nicht in betracht kommt, so daſs man in versuchung ist, geradezu einen Dorer aus Mykene als dichter anzu- nehmen. wer diese verhältnisse abzuwägen urteilskraft kenntnis und guten willen hat, kann gar nicht anders urteilen, als das 8. jahrhundert als untere grenze für die entstehungszeit dieser groſsartig einfachen dichtung anzusehen. Das versteht sich von selbst, daſs diesem dichter auch schon geformtes material vorlag. die alte sage seiner ahnen und eltern lieferte ihm das beste. einzelne taten sind ohne frage schon vorher erzählt, denn sie erwuchsen aus den concreten örtlichen verhältnissen. andere übernahm er aus anderen sagen. es kann ja jemand sagen, daſs ihm zehn kämpfe (ohne stier und Amazonen) oder neun (auch ohne die rosse) einen älteren stamm zu bilden schienen. das mag er zu beweisen versuchen, der beweis mag auch gelingen: daran ändert er nichts, daſs eine dichtung von Herakles leben in so alter zeit, in der Argolis, mit der bestimmten tendenz und mit dem durchschlagenden erfolge anzunehmen ist. und diesen erfolg hat erst der dodekathlos gehabt. Unabweisbar tritt da die frage hervor: welcher art war die form der dichtung, und wie ist der dichter zu denken? die antwort wird unbefriedigend lauten, aber der versuch muſs gemacht werden. zunächst fragt man nach den Heraklesepen, von denen uns eine kunde geblieben ist. wir wissen sehr wenig, aber genug, um sie alle auszuschlieſsen. in den romantischen bestrebungen des 3. jahrhunderts, die bei den kleinasiatischen Dorern besonders lebhaft waren, hat man auf Rhodos ein nicht eben umfang- reiches altes gedicht hervorgezogen, von dem in älterer zeit nicht die leiseste spur ist. die Rhodier schrieben es jetzt einem gewissen Peisandros von Kamiros zu und setzten dem plötzlich auftauchenden dorischen Homer eine statue. die grammatiker wuſsten wol, daſs dieser verfassername nicht

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/328>, abgerufen am 26.04.2024.