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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der dodekathlos.
sage kanonisches epos nicht existirt hat, am wenigsten im Peloponnes.
auch die bildende kunst, die von einzelnen scenen ausgeht, kann keinen
cyclus beweisen, denn für sie überwiegen künstlerische rücksichten, selbst
wenn sie mehrere taten zusammenstellt. sie kann ihn aber eben deshalb
auch nicht widerlegen; das alter der einzelnen taten bezeugt sie dagegen
vollauf. aber diese taten sind teils wirklich als einzelne ursprünglich ge-
dacht, teils ist man jetzt geneigt sie zu vereinzeln. wenn die stymphalischen
vögel sturmdaemonen, der erymanthische eber ein bergstrom, die hindin
eine jagdbeute des sonnengottes, Geryones der winter ist, so hat in der
tat die verbindung solcher abenteuer keinen inneren wert, und wenn
Herakles ein gott ist wie Apollon oder ein heros wie Theseus, so löst sich
die Heraklee in epiphaneiai Erakleous entsprechend den epiphaneiai
Apollonos 73) auf, oder sie erscheint so compilatorisch wie die Theseus-
taten. dagegen fordert die hier vorgetragene ansicht von der Herakles-
religion eine zusammenhängende lebensgeschichte, führt also von selbst
zu der neigung, dem in der späteren zeit geltenden cyclus ein möglichst
hohes alter zuzuschreiben. aber die neigung ist kein ersatz für den
beweis. er lässt sich mit aller wünschenswerten sicherheit führen.

Die zwölfzahl der kämpfe kennt Euripides im Herakles. die zwölf
kämpfe selbst bezeugen 50 jahre früher die metopen des olympischen
Zeustempels. sie haben eine durchschlagende bedeutung erlangt, denn
um ihretwillen hat der mythograph, der für die nachwelt bestimmend
blieb, die aller älteren poesie und bildenden kunst fremde speciell eleische
sage von den ställen des Augeias an stelle der Kentauromachie aufge-
nommen, welche die Eleer in den metopen fallen lassen mussten, weil
sie für den westgiebel eine Kentauromachie gewählt hatten 74). aber dass

für die mythographische wie die monumentale forschung auch auf diesem sagen-
gebiete gelegt. seine arbeit ist auch jetzt noch reiner genuss für den leser.
73) Beide titel sind für werke oder teile eines werkes von dem Kallimacheer
Istros bezeugt; die epiph. Erakleous kürzlich durch ein bruchstück des Zenobios bei
Cohn (Zu den paroemiogr. 70) bekannt geworden. die Heraklesgeschichte (deiloteros
tou parakuptontos) ist in wahrheit die erklärung eines naturspiels an irgend einer
tropfsteinhöhle, aber der ort fehlt, und damit die hauptsache. dass Istros eine
zusammenhängende darstellung der Heraklestaten gegeben hätte, ist nicht glaublich.
74) Was dieser giebel darstellt, ist gänzlich ungewiss. Herakles ist nicht zu
erkennen, die überlieferte deutung auf Theseus und Peirithoos verkennt notorisch
eine hauptfigur und kommt offenbar nur daher, dass eine Kentauromachie, auf welcher
Herakles fehlt, die thessalische sein müsste. an diese in Olympia, unterhalb der
Pholoe, zu denken, ist eine tollheit, zu der nur ein archaeologe kommen kann, der
nichts von geschichte weiss. dargestellt ist die eleische Kentauromachie in der
form welche Herakles erst verdrängt hat. unmittelbar überliefert ist diese nicht,
v. Wilamowitz I. 20

Der dodekathlos.
sage kanonisches epos nicht existirt hat, am wenigsten im Peloponnes.
auch die bildende kunst, die von einzelnen scenen ausgeht, kann keinen
cyclus beweisen, denn für sie überwiegen künstlerische rücksichten, selbst
wenn sie mehrere taten zusammenstellt. sie kann ihn aber eben deshalb
auch nicht widerlegen; das alter der einzelnen taten bezeugt sie dagegen
vollauf. aber diese taten sind teils wirklich als einzelne ursprünglich ge-
dacht, teils ist man jetzt geneigt sie zu vereinzeln. wenn die stymphalischen
vögel sturmdaemonen, der erymanthische eber ein bergstrom, die hindin
eine jagdbeute des sonnengottes, Geryones der winter ist, so hat in der
tat die verbindung solcher abenteuer keinen inneren wert, und wenn
Herakles ein gott ist wie Apollon oder ein heros wie Theseus, so löst sich
die Heraklee in ἐπιφάνειαι Ἡρακλέους entsprechend den ἐπιφάνειαι
Ἀπόλλωνος 73) auf, oder sie erscheint so compilatorisch wie die Theseus-
taten. dagegen fordert die hier vorgetragene ansicht von der Herakles-
religion eine zusammenhängende lebensgeschichte, führt also von selbst
zu der neigung, dem in der späteren zeit geltenden cyclus ein möglichst
hohes alter zuzuschreiben. aber die neigung ist kein ersatz für den
beweis. er läſst sich mit aller wünschenswerten sicherheit führen.

Die zwölfzahl der kämpfe kennt Euripides im Herakles. die zwölf
kämpfe selbst bezeugen 50 jahre früher die metopen des olympischen
Zeustempels. sie haben eine durchschlagende bedeutung erlangt, denn
um ihretwillen hat der mythograph, der für die nachwelt bestimmend
blieb, die aller älteren poesie und bildenden kunst fremde speciell eleische
sage von den ställen des Augeias an stelle der Kentauromachie aufge-
nommen, welche die Eleer in den metopen fallen lassen muſsten, weil
sie für den westgiebel eine Kentauromachie gewählt hatten 74). aber daſs

für die mythographische wie die monumentale forschung auch auf diesem sagen-
gebiete gelegt. seine arbeit ist auch jetzt noch reiner genuſs für den leser.
73) Beide titel sind für werke oder teile eines werkes von dem Kallimacheer
Istros bezeugt; die ἐπιφ. Ἡρακλέους kürzlich durch ein bruchstück des Zenobios bei
Cohn (Zu den paroemiogr. 70) bekannt geworden. die Heraklesgeschichte (δειλότερος
τοῦ παρακύπτοντος) ist in wahrheit die erklärung eines naturspiels an irgend einer
tropfsteinhöhle, aber der ort fehlt, und damit die hauptsache. daſs Istros eine
zusammenhängende darstellung der Heraklestaten gegeben hätte, ist nicht glaublich.
74) Was dieser giebel darstellt, ist gänzlich ungewiſs. Herakles ist nicht zu
erkennen, die überlieferte deutung auf Theseus und Peirithoos verkennt notorisch
eine hauptfigur und kommt offenbar nur daher, daſs eine Kentauromachie, auf welcher
Herakles fehlt, die thessalische sein müſste. an diese in Olympia, unterhalb der
Pholoe, zu denken, ist eine tollheit, zu der nur ein archaeologe kommen kann, der
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[305/0325] Der dodekathlos. sage kanonisches epos nicht existirt hat, am wenigsten im Peloponnes. auch die bildende kunst, die von einzelnen scenen ausgeht, kann keinen cyclus beweisen, denn für sie überwiegen künstlerische rücksichten, selbst wenn sie mehrere taten zusammenstellt. sie kann ihn aber eben deshalb auch nicht widerlegen; das alter der einzelnen taten bezeugt sie dagegen vollauf. aber diese taten sind teils wirklich als einzelne ursprünglich ge- dacht, teils ist man jetzt geneigt sie zu vereinzeln. wenn die stymphalischen vögel sturmdaemonen, der erymanthische eber ein bergstrom, die hindin eine jagdbeute des sonnengottes, Geryones der winter ist, so hat in der tat die verbindung solcher abenteuer keinen inneren wert, und wenn Herakles ein gott ist wie Apollon oder ein heros wie Theseus, so löst sich die Heraklee in ἐπιφάνειαι Ἡρακλέους entsprechend den ἐπιφάνειαι Ἀπόλλωνος 73) auf, oder sie erscheint so compilatorisch wie die Theseus- taten. dagegen fordert die hier vorgetragene ansicht von der Herakles- religion eine zusammenhängende lebensgeschichte, führt also von selbst zu der neigung, dem in der späteren zeit geltenden cyclus ein möglichst hohes alter zuzuschreiben. aber die neigung ist kein ersatz für den beweis. er läſst sich mit aller wünschenswerten sicherheit führen. Die zwölfzahl der kämpfe kennt Euripides im Herakles. die zwölf kämpfe selbst bezeugen 50 jahre früher die metopen des olympischen Zeustempels. sie haben eine durchschlagende bedeutung erlangt, denn um ihretwillen hat der mythograph, der für die nachwelt bestimmend blieb, die aller älteren poesie und bildenden kunst fremde speciell eleische sage von den ställen des Augeias an stelle der Kentauromachie aufge- nommen, welche die Eleer in den metopen fallen lassen muſsten, weil sie für den westgiebel eine Kentauromachie gewählt hatten 74). aber daſs 72) 73) Beide titel sind für werke oder teile eines werkes von dem Kallimacheer Istros bezeugt; die ἐπιφ. Ἡρακλέους kürzlich durch ein bruchstück des Zenobios bei Cohn (Zu den paroemiogr. 70) bekannt geworden. die Heraklesgeschichte (δειλότερος τοῦ παρακύπτοντος) ist in wahrheit die erklärung eines naturspiels an irgend einer tropfsteinhöhle, aber der ort fehlt, und damit die hauptsache. daſs Istros eine zusammenhängende darstellung der Heraklestaten gegeben hätte, ist nicht glaublich. 74) Was dieser giebel darstellt, ist gänzlich ungewiſs. Herakles ist nicht zu erkennen, die überlieferte deutung auf Theseus und Peirithoos verkennt notorisch eine hauptfigur und kommt offenbar nur daher, daſs eine Kentauromachie, auf welcher Herakles fehlt, die thessalische sein müſste. an diese in Olympia, unterhalb der Pholoe, zu denken, ist eine tollheit, zu der nur ein archaeologe kommen kann, der nichts von geschichte weiſs. dargestellt ist die eleische Kentauromachie in der form welche Herakles erst verdrängt hat. unmittelbar überliefert ist diese nicht, 72) für die mythographische wie die monumentale forschung auch auf diesem sagen- gebiete gelegt. seine arbeit ist auch jetzt noch reiner genuſs für den leser. v. Wilamowitz I. 20

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/325>, abgerufen am 26.04.2024.