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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
manche kommen über einzelbemerkungen kaum hinaus, wie Tyrwhitt.
nur Musgrave, der aber in naher beziehung zu Holland steht und über-
haupt nicht zur zunft gehört, macht gesammtausgaben, mit allerdings
geringem handschriftlichem materiale und geringem ansatze zur erklärung,
ein hastiges ungleiches in vielem dürftiges werk, aber doch auch ab-
gesehen von der reichen ernte von gelungenem (bis heute nicht genug
anerkanntem) höchst achtungswert durch das was er in seiner zeit allein
anstrebte. für die koryphaeen ist ein gereinigter text zwar das ziel, aber der
einzelne verzichtet darauf es zu erreichen. was man dafür als notwendig
erkannt hat, ist das eine und grosse, die gesetze der sprache und des vers-
baus aus den überlieferten texten selbst durch empirische beobachtung zu
gewinnen und danach die überlieferung zu reinigen. mit der dichterkritik
geht die der classischen prosa hand in hand; doch hat in ihr erst Dobree
umfassendes geleistet. immerhin war also attische formenlehre und attische
syntax und attische metrik das was man angestrebt und wofür man den
grund gelegt hat. die scharfe zeitliche umgrenzung des beobachtungs-
gebietes war von vorn herein ein vorzug, nur um so grösser, als die
deutschen gegner ihn nicht zu würdigen verstanden. es gehört nicht viel
logik dazu einzusehen, dass es ein cirkelweg ist die überlieferung nach
den gesetzen die man ihr entnimmt zu verbessern, und es ist eben so
nahe liegend für die 'gesetze', welche man aufstellte und gemäss dem
englischen nationalcharakter gern als unverbrüchliche nicht ohne pedan-
tismus aufrecht zu haltende canones ausgab, eine innere begründung zu
fordern und die rechte der individuellen dichterfreiheit wider das starre
gesetz zu verteidigen. tatsache ist, dass zwar G. Hermann eine sehr viel
tiefere auffassung von der grammatik als wissenschaft zum siege geführt
hat, dass aber seine eigene verteidigung der anomalie nicht besser stand
gehalten hat, als es die anomalie immer zu tun pflegt. jetzt, wo die ge-
schichtliche grammatik und die urkundlichen zeugnisse des gebrauches in
den inschriften als schiedsrichter zwischen Hermanns und Elmsleys regeln
stehen, ist im wesentlichen der sieg zu gunsten der Engländer ent-
schieden. ohne zweifel muss es nicht nur für den arbeiter selbst ver-
dummend wirken, wenn das kritische geschäft zum zählen des statistikers
wird, und dann mechanisch nach dem majoritätsprincip entschieden wird;
aber so geht es doch nur, wenn unreife oder geistlose hände treiben was
sie lassen sollten. wie hoch ist nicht der berg von makulatur, der durch
solche dissertationen 'über den sprachgebrauch so und so bei dem und
dem' in Deutschland gehäuft ist. nicht minder zweifellos ist, dass die ver-
teidigung der anomalien durch grammatische düfteleien, wie sie in vielen

Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
manche kommen über einzelbemerkungen kaum hinaus, wie Tyrwhitt.
nur Musgrave, der aber in naher beziehung zu Holland steht und über-
haupt nicht zur zunft gehört, macht gesammtausgaben, mit allerdings
geringem handschriftlichem materiale und geringem ansatze zur erklärung,
ein hastiges ungleiches in vielem dürftiges werk, aber doch auch ab-
gesehen von der reichen ernte von gelungenem (bis heute nicht genug
anerkanntem) höchst achtungswert durch das was er in seiner zeit allein
anstrebte. für die koryphaeen ist ein gereinigter text zwar das ziel, aber der
einzelne verzichtet darauf es zu erreichen. was man dafür als notwendig
erkannt hat, ist das eine und groſse, die gesetze der sprache und des vers-
baus aus den überlieferten texten selbst durch empirische beobachtung zu
gewinnen und danach die überlieferung zu reinigen. mit der dichterkritik
geht die der classischen prosa hand in hand; doch hat in ihr erst Dobree
umfassendes geleistet. immerhin war also attische formenlehre und attische
syntax und attische metrik das was man angestrebt und wofür man den
grund gelegt hat. die scharfe zeitliche umgrenzung des beobachtungs-
gebietes war von vorn herein ein vorzug, nur um so gröſser, als die
deutschen gegner ihn nicht zu würdigen verstanden. es gehört nicht viel
logik dazu einzusehen, daſs es ein cirkelweg ist die überlieferung nach
den gesetzen die man ihr entnimmt zu verbessern, und es ist eben so
nahe liegend für die ‘gesetze’, welche man aufstellte und gemäſs dem
englischen nationalcharakter gern als unverbrüchliche nicht ohne pedan-
tismus aufrecht zu haltende canones ausgab, eine innere begründung zu
fordern und die rechte der individuellen dichterfreiheit wider das starre
gesetz zu verteidigen. tatsache ist, daſs zwar G. Hermann eine sehr viel
tiefere auffassung von der grammatik als wissenschaft zum siege geführt
hat, daſs aber seine eigene verteidigung der anomalie nicht besser stand
gehalten hat, als es die anomalie immer zu tun pflegt. jetzt, wo die ge-
schichtliche grammatik und die urkundlichen zeugnisse des gebrauches in
den inschriften als schiedsrichter zwischen Hermanns und Elmsleys regeln
stehen, ist im wesentlichen der sieg zu gunsten der Engländer ent-
schieden. ohne zweifel muſs es nicht nur für den arbeiter selbst ver-
dummend wirken, wenn das kritische geschäft zum zählen des statistikers
wird, und dann mechanisch nach dem majoritätsprincip entschieden wird;
aber so geht es doch nur, wenn unreife oder geistlose hände treiben was
sie lassen sollten. wie hoch ist nicht der berg von makulatur, der durch
solche dissertationen ‘über den sprachgebrauch so und so bei dem und
dem’ in Deutschland gehäuft ist. nicht minder zweifellos ist, daſs die ver-
teidigung der anomalien durch grammatische düfteleien, wie sie in vielen

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[228/0248] Wege und ziele der modernen tragikerkritik. manche kommen über einzelbemerkungen kaum hinaus, wie Tyrwhitt. nur Musgrave, der aber in naher beziehung zu Holland steht und über- haupt nicht zur zunft gehört, macht gesammtausgaben, mit allerdings geringem handschriftlichem materiale und geringem ansatze zur erklärung, ein hastiges ungleiches in vielem dürftiges werk, aber doch auch ab- gesehen von der reichen ernte von gelungenem (bis heute nicht genug anerkanntem) höchst achtungswert durch das was er in seiner zeit allein anstrebte. für die koryphaeen ist ein gereinigter text zwar das ziel, aber der einzelne verzichtet darauf es zu erreichen. was man dafür als notwendig erkannt hat, ist das eine und groſse, die gesetze der sprache und des vers- baus aus den überlieferten texten selbst durch empirische beobachtung zu gewinnen und danach die überlieferung zu reinigen. mit der dichterkritik geht die der classischen prosa hand in hand; doch hat in ihr erst Dobree umfassendes geleistet. immerhin war also attische formenlehre und attische syntax und attische metrik das was man angestrebt und wofür man den grund gelegt hat. die scharfe zeitliche umgrenzung des beobachtungs- gebietes war von vorn herein ein vorzug, nur um so gröſser, als die deutschen gegner ihn nicht zu würdigen verstanden. es gehört nicht viel logik dazu einzusehen, daſs es ein cirkelweg ist die überlieferung nach den gesetzen die man ihr entnimmt zu verbessern, und es ist eben so nahe liegend für die ‘gesetze’, welche man aufstellte und gemäſs dem englischen nationalcharakter gern als unverbrüchliche nicht ohne pedan- tismus aufrecht zu haltende canones ausgab, eine innere begründung zu fordern und die rechte der individuellen dichterfreiheit wider das starre gesetz zu verteidigen. tatsache ist, daſs zwar G. Hermann eine sehr viel tiefere auffassung von der grammatik als wissenschaft zum siege geführt hat, daſs aber seine eigene verteidigung der anomalie nicht besser stand gehalten hat, als es die anomalie immer zu tun pflegt. jetzt, wo die ge- schichtliche grammatik und die urkundlichen zeugnisse des gebrauches in den inschriften als schiedsrichter zwischen Hermanns und Elmsleys regeln stehen, ist im wesentlichen der sieg zu gunsten der Engländer ent- schieden. ohne zweifel muſs es nicht nur für den arbeiter selbst ver- dummend wirken, wenn das kritische geschäft zum zählen des statistikers wird, und dann mechanisch nach dem majoritätsprincip entschieden wird; aber so geht es doch nur, wenn unreife oder geistlose hände treiben was sie lassen sollten. wie hoch ist nicht der berg von makulatur, der durch solche dissertationen ‘über den sprachgebrauch so und so bei dem und dem’ in Deutschland gehäuft ist. nicht minder zweifellos ist, daſs die ver- teidigung der anomalien durch grammatische düfteleien, wie sie in vielen

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/248>, abgerufen am 27.04.2024.