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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Benutzung der auswahl.
gibt es noch leute, wie Aristides und Lukian, denen, auch wenn sie kein
herz mehr dafür haben, eine weitere eigene kenntnis von tragödien zuge-
traut werden kann; unter Severus hat Philostrat der ältere 163) für seine
bilder wenigstens von Sophokles und Euripides eine reihe dramen benutzt,
aber von keinem späteren ist es nachweisbar, dass er eines gelesen hätte,
das nicht unter den oben aufgezählten enthalten wäre. nun würde eine
einzelne gegeninstanz ja noch wenig besagen, denn natürlich blieben
die handschriften in den bibliotheken liegen, bis äussere unbill oder die
blosse vernachlässigung sie zerstörte, und wenn Simplicius tragödien ge-
braucht hätte, so würde er mancherlei so gewiss gefunden haben, wie er
zu unserer überraschung alte philosophen fand. auf diesem wege haben
sich ja wirklich auch noch dramen und dramenbruchstücke des Euripides
auf uns gerettet. an dem allgemeinen verschollensein der alten philo-
sophen ändert jedoch Simplicius nichts, und so würde ein weisser rabe
die allgemeine gleichgiltigkeit der letzten jahrhunderte, die man zur antike
rechnet, gegen die tragödie nicht in frage stellen. aber mir ist keiner
begegnet. ja ich vermisse vielmehr die fülle der belege, die ich wünschte,
um die bekanntschaft wenigstens der auswahl zu beweisen. und erschwert
wird der nachweis noch dadurch dass unter den ersten euripideischen
stücken sich Orestes und Phoenissen befinden, die seit ihrer ersten auf-
führung unausgesetzt besonderen beifall gefunden haben, also auch ohne
den einfluss ihrer stellung in der auswahl immer besonders häufig citirt
worden sind. so dürfen einzelne beobachtungen nicht dazu verlocken, die
anlage der auswahl sehr früh anzusetzen 164). für unmöglich kann man

163) Der jüngere dagegen behilft sich mit Pindar Nem. 1 (eik. 5), Apollonios
Rhodios (7. 8. 11), Philoktet und Trachinierinnen des Sophokles (6. 16. 17 vgl. auch
das citat 1), citirt Oid. Kol. (3). für das übrige bedarf man nirgends einer dramatischen
vorlage: man darf ja nicht vergessen, dass die mythographische litteratur sehr stark
für den bedarf der sophisten zugerichtet und erweislich viel benutzt ist. die muthikai
diegiseis der sophisten verlangen dringend eine ausgabe und bearbeitung. Neoptolemos
unter den schäfern verborgen, damit Phoinix ihn nicht nach Troia abhole, zufällig
mit diesem zusammentreffend und an der ähnlichkeit mit seinem vater erkannt
(Philostr. I b), ist ein hübsches motiv, deutlich nach Achilleus in Skyros erfunden. die
abholung des Neoptolemos durch Phoinix war inhalt der sophokleischen Skyrier
(Robert, Bild und Lied 34), aber dieses raffinirte motiv wird man auf Sophokles
kaum zurückführen, da ja die sage von Achilleus auf Skyros selbst erst durch Polygnot
und des Euripides Skyrier aufgekommen war. und für die directe benutzung der
sophokleischen tragödie durch den sophisten spricht vollends gar nichts.
164) Wenn z. b. der sophist Cassius Maximus von Tyros von Aristophanes nur
Frösche und Wolken, von Euripides Phoenissen, von Aischylos zwar den Philoktet,
aber aus einem älteren philosophen, den auch Plutarch benutzt (vgl. fgm. 250) citirt,

Benutzung der auswahl.
gibt es noch leute, wie Aristides und Lukian, denen, auch wenn sie kein
herz mehr dafür haben, eine weitere eigene kenntnis von tragödien zuge-
traut werden kann; unter Severus hat Philostrat der ältere 163) für seine
bilder wenigstens von Sophokles und Euripides eine reihe dramen benutzt,
aber von keinem späteren ist es nachweisbar, daſs er eines gelesen hätte,
das nicht unter den oben aufgezählten enthalten wäre. nun würde eine
einzelne gegeninstanz ja noch wenig besagen, denn natürlich blieben
die handschriften in den bibliotheken liegen, bis äuſsere unbill oder die
bloſse vernachlässigung sie zerstörte, und wenn Simplicius tragödien ge-
braucht hätte, so würde er mancherlei so gewiſs gefunden haben, wie er
zu unserer überraschung alte philosophen fand. auf diesem wege haben
sich ja wirklich auch noch dramen und dramenbruchstücke des Euripides
auf uns gerettet. an dem allgemeinen verschollensein der alten philo-
sophen ändert jedoch Simplicius nichts, und so würde ein weiſser rabe
die allgemeine gleichgiltigkeit der letzten jahrhunderte, die man zur antike
rechnet, gegen die tragödie nicht in frage stellen. aber mir ist keiner
begegnet. ja ich vermisse vielmehr die fülle der belege, die ich wünschte,
um die bekanntschaft wenigstens der auswahl zu beweisen. und erschwert
wird der nachweis noch dadurch daſs unter den ersten euripideischen
stücken sich Orestes und Phoenissen befinden, die seit ihrer ersten auf-
führung unausgesetzt besonderen beifall gefunden haben, also auch ohne
den einfluſs ihrer stellung in der auswahl immer besonders häufig citirt
worden sind. so dürfen einzelne beobachtungen nicht dazu verlocken, die
anlage der auswahl sehr früh anzusetzen 164). für unmöglich kann man

163) Der jüngere dagegen behilft sich mit Pindar Nem. 1 (εἰϰ. 5), Apollonios
Rhodios (7. 8. 11), Philoktet und Trachinierinnen des Sophokles (6. 16. 17 vgl. auch
das citat 1), citirt Oid. Kol. (3). für das übrige bedarf man nirgends einer dramatischen
vorlage: man darf ja nicht vergessen, daſs die mythographische litteratur sehr stark
für den bedarf der sophisten zugerichtet und erweislich viel benutzt ist. die μυϑιϰαὶ
διηγίσεις der sophisten verlangen dringend eine ausgabe und bearbeitung. Neoptolemos
unter den schäfern verborgen, damit Phoinix ihn nicht nach Troia abhole, zufällig
mit diesem zusammentreffend und an der ähnlichkeit mit seinem vater erkannt
(Philostr. I b), ist ein hübsches motiv, deutlich nach Achilleus in Skyros erfunden. die
abholung des Neoptolemos durch Phoinix war inhalt der sophokleischen Skyrier
(Robert, Bild und Lied 34), aber dieses raffinirte motiv wird man auf Sophokles
kaum zurückführen, da ja die sage von Achilleus auf Skyros selbst erst durch Polygnot
und des Euripides Skyrier aufgekommen war. und für die directe benutzung der
sophokleischen tragödie durch den sophisten spricht vollends gar nichts.
164) Wenn z. b. der sophist Cassius Maximus von Tyros von Aristophanes nur
Frösche und Wolken, von Euripides Phoenissen, von Aischylos zwar den Philoktet,
aber aus einem älteren philosophen, den auch Plutarch benutzt (vgl. fgm. 250) citirt,
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[201/0221] Benutzung der auswahl. gibt es noch leute, wie Aristides und Lukian, denen, auch wenn sie kein herz mehr dafür haben, eine weitere eigene kenntnis von tragödien zuge- traut werden kann; unter Severus hat Philostrat der ältere 163) für seine bilder wenigstens von Sophokles und Euripides eine reihe dramen benutzt, aber von keinem späteren ist es nachweisbar, daſs er eines gelesen hätte, das nicht unter den oben aufgezählten enthalten wäre. nun würde eine einzelne gegeninstanz ja noch wenig besagen, denn natürlich blieben die handschriften in den bibliotheken liegen, bis äuſsere unbill oder die bloſse vernachlässigung sie zerstörte, und wenn Simplicius tragödien ge- braucht hätte, so würde er mancherlei so gewiſs gefunden haben, wie er zu unserer überraschung alte philosophen fand. auf diesem wege haben sich ja wirklich auch noch dramen und dramenbruchstücke des Euripides auf uns gerettet. an dem allgemeinen verschollensein der alten philo- sophen ändert jedoch Simplicius nichts, und so würde ein weiſser rabe die allgemeine gleichgiltigkeit der letzten jahrhunderte, die man zur antike rechnet, gegen die tragödie nicht in frage stellen. aber mir ist keiner begegnet. ja ich vermisse vielmehr die fülle der belege, die ich wünschte, um die bekanntschaft wenigstens der auswahl zu beweisen. und erschwert wird der nachweis noch dadurch daſs unter den ersten euripideischen stücken sich Orestes und Phoenissen befinden, die seit ihrer ersten auf- führung unausgesetzt besonderen beifall gefunden haben, also auch ohne den einfluſs ihrer stellung in der auswahl immer besonders häufig citirt worden sind. so dürfen einzelne beobachtungen nicht dazu verlocken, die anlage der auswahl sehr früh anzusetzen 164). für unmöglich kann man 163) Der jüngere dagegen behilft sich mit Pindar Nem. 1 (εἰϰ. 5), Apollonios Rhodios (7. 8. 11), Philoktet und Trachinierinnen des Sophokles (6. 16. 17 vgl. auch das citat 1), citirt Oid. Kol. (3). für das übrige bedarf man nirgends einer dramatischen vorlage: man darf ja nicht vergessen, daſs die mythographische litteratur sehr stark für den bedarf der sophisten zugerichtet und erweislich viel benutzt ist. die μυϑιϰαὶ διηγίσεις der sophisten verlangen dringend eine ausgabe und bearbeitung. Neoptolemos unter den schäfern verborgen, damit Phoinix ihn nicht nach Troia abhole, zufällig mit diesem zusammentreffend und an der ähnlichkeit mit seinem vater erkannt (Philostr. I b), ist ein hübsches motiv, deutlich nach Achilleus in Skyros erfunden. die abholung des Neoptolemos durch Phoinix war inhalt der sophokleischen Skyrier (Robert, Bild und Lied 34), aber dieses raffinirte motiv wird man auf Sophokles kaum zurückführen, da ja die sage von Achilleus auf Skyros selbst erst durch Polygnot und des Euripides Skyrier aufgekommen war. und für die directe benutzung der sophokleischen tragödie durch den sophisten spricht vollends gar nichts. 164) Wenn z. b. der sophist Cassius Maximus von Tyros von Aristophanes nur Frösche und Wolken, von Euripides Phoenissen, von Aischylos zwar den Philoktet, aber aus einem älteren philosophen, den auch Plutarch benutzt (vgl. fgm. 250) citirt,

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/221>, abgerufen am 26.04.2024.