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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Verfall der cultur im 2. jahrhundert n. Chr.
im ersten jahrhundert wenig davon zu spüren war, und das wuchs sich
um 400, als die sprache schon so gut wie tot war, zu einer wirklich eigen-
artigen, wenn auch barbarischen kunst aus. dafür brauchte man aber
ausser Homer, dessen naivetät die geringsten ingenia kindisch copirten,
die alexandrinische dichtung ausschliesslich, deren formen, deren wort-
schatz, deren poetische technik unerschüttert regierten: freilich Antimachos
Aratos Apollonios Nikandros mehr als die dichter ersten ranges. aber
darum, dass am kaiserhofe ein Mesomedes lahme rhythmen unmelodisch
componirte, war ein studium der lyriker nicht von wichtigkeit. und die
tragödie vollends war stumm geworden. es wird im zweiten jahrhundert
gewiss noch vielfach etwas tragisches gespielt sein, obwol die zeugnisse
der atticisten nicht schwer wiegen, denn sie erheucheln auch alte sitten.
dann aber ist es vorbei, und für die gebildeten war längst statt der
tragödie als darstellerin der alten sage eine modernere Muse aufgetreten,
das ballet: die gute gesellschaft Roms lernte den Aiolos des Euripides
durch dasselbe mittel kennen, wie die heutige den Sardanapal Byrons,
durch die beine eines Pylades.

Und doch stand es ja fest, dass die classiker classisch waren, und
es gehörte zu den voraussetzungen der allgemeinen bildung, dass das
classische bekannt war. das war es auch, in der weise, wie zeiten mit
sinkender cultur ihre verblassenden ideale kennen lernen. die classiker
waren in die schule herabgesunken. da mussten sie gelesen werden, das
verstand sich und verlangte jeder. und wenn der junge mensch aus der
schule in's leben trat, da warf er den plunder weg, der für's leben, das
heisst für gelderwerb und ehrengier und sinnesgenuss, doch nichts hilft.
so sagte niemand (das würde ja ehrlich gewesen sein), aber so tat jeder.
die schule aber ist genötigt, sich mit einer auswahl zu behelfen, ihre
aufgaben fordern einen ganz besonderen massstab der auslese und
eine besondere art der behandlung. sie tut nur ihre schuldigkeit, wenn
sie mit den strengen forderungen der wissenschaftlichkeit in conflict
kommt.

Schulmässige behandlung oder wenigstens eine beträchtliche ver-
flachung ihres niveaus musste die grammatik aber überhaupt vornehmen,
wenn sie weiteren kreisen irgendwelche alte poesie erschliessen wollte.
denn trotz allem attisch parliren, trotz den totenerweckungen des duales,
der dative oi und sphisi, des doppelten t statt doppeltem s, so schöner
vor 300 verstorbner formen wie gegraphatai und napu und von tausend
vocabeln konnten die herren Titianus und Lucianus, die sich Titanios,

v. Wilamowitz I. 12

Verfall der cultur im 2. jahrhundert n. Chr.
im ersten jahrhundert wenig davon zu spüren war, und das wuchs sich
um 400, als die sprache schon so gut wie tot war, zu einer wirklich eigen-
artigen, wenn auch barbarischen kunst aus. dafür brauchte man aber
auſser Homer, dessen naivetät die geringsten ingenia kindisch copirten,
die alexandrinische dichtung ausschlieſslich, deren formen, deren wort-
schatz, deren poetische technik unerschüttert regierten: freilich Antimachos
Aratos Apollonios Nikandros mehr als die dichter ersten ranges. aber
darum, daſs am kaiserhofe ein Mesomedes lahme rhythmen unmelodisch
componirte, war ein studium der lyriker nicht von wichtigkeit. und die
tragödie vollends war stumm geworden. es wird im zweiten jahrhundert
gewiſs noch vielfach etwas tragisches gespielt sein, obwol die zeugnisse
der atticisten nicht schwer wiegen, denn sie erheucheln auch alte sitten.
dann aber ist es vorbei, und für die gebildeten war längst statt der
tragödie als darstellerin der alten sage eine modernere Muse aufgetreten,
das ballet: die gute gesellschaft Roms lernte den Aiolos des Euripides
durch dasselbe mittel kennen, wie die heutige den Sardanapal Byrons,
durch die beine eines Pylades.

Und doch stand es ja fest, daſs die classiker classisch waren, und
es gehörte zu den voraussetzungen der allgemeinen bildung, daſs das
classische bekannt war. das war es auch, in der weise, wie zeiten mit
sinkender cultur ihre verblassenden ideale kennen lernen. die classiker
waren in die schule herabgesunken. da muſsten sie gelesen werden, das
verstand sich und verlangte jeder. und wenn der junge mensch aus der
schule in’s leben trat, da warf er den plunder weg, der für’s leben, das
heiſst für gelderwerb und ehrengier und sinnesgenuſs, doch nichts hilft.
so sagte niemand (das würde ja ehrlich gewesen sein), aber so tat jeder.
die schule aber ist genötigt, sich mit einer auswahl zu behelfen, ihre
aufgaben fordern einen ganz besonderen maſsstab der auslese und
eine besondere art der behandlung. sie tut nur ihre schuldigkeit, wenn
sie mit den strengen forderungen der wissenschaftlichkeit in conflict
kommt.

Schulmäſsige behandlung oder wenigstens eine beträchtliche ver-
flachung ihres niveaus muſste die grammatik aber überhaupt vornehmen,
wenn sie weiteren kreisen irgendwelche alte poesie erschlieſsen wollte.
denn trotz allem attisch parliren, trotz den totenerweckungen des duales,
der dative οἱ und σφίσι, des doppelten t statt doppeltem s, so schöner
vor 300 verstorbner formen wie γεγράφαται und νᾶπυ und von tausend
vocabeln konnten die herren Titianus und Lucianus, die sich Τιτάνιος,

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[177/0197] Verfall der cultur im 2. jahrhundert n. Chr. im ersten jahrhundert wenig davon zu spüren war, und das wuchs sich um 400, als die sprache schon so gut wie tot war, zu einer wirklich eigen- artigen, wenn auch barbarischen kunst aus. dafür brauchte man aber auſser Homer, dessen naivetät die geringsten ingenia kindisch copirten, die alexandrinische dichtung ausschlieſslich, deren formen, deren wort- schatz, deren poetische technik unerschüttert regierten: freilich Antimachos Aratos Apollonios Nikandros mehr als die dichter ersten ranges. aber darum, daſs am kaiserhofe ein Mesomedes lahme rhythmen unmelodisch componirte, war ein studium der lyriker nicht von wichtigkeit. und die tragödie vollends war stumm geworden. es wird im zweiten jahrhundert gewiſs noch vielfach etwas tragisches gespielt sein, obwol die zeugnisse der atticisten nicht schwer wiegen, denn sie erheucheln auch alte sitten. dann aber ist es vorbei, und für die gebildeten war längst statt der tragödie als darstellerin der alten sage eine modernere Muse aufgetreten, das ballet: die gute gesellschaft Roms lernte den Aiolos des Euripides durch dasselbe mittel kennen, wie die heutige den Sardanapal Byrons, durch die beine eines Pylades. Und doch stand es ja fest, daſs die classiker classisch waren, und es gehörte zu den voraussetzungen der allgemeinen bildung, daſs das classische bekannt war. das war es auch, in der weise, wie zeiten mit sinkender cultur ihre verblassenden ideale kennen lernen. die classiker waren in die schule herabgesunken. da muſsten sie gelesen werden, das verstand sich und verlangte jeder. und wenn der junge mensch aus der schule in’s leben trat, da warf er den plunder weg, der für’s leben, das heiſst für gelderwerb und ehrengier und sinnesgenuſs, doch nichts hilft. so sagte niemand (das würde ja ehrlich gewesen sein), aber so tat jeder. die schule aber ist genötigt, sich mit einer auswahl zu behelfen, ihre aufgaben fordern einen ganz besonderen maſsstab der auslese und eine besondere art der behandlung. sie tut nur ihre schuldigkeit, wenn sie mit den strengen forderungen der wissenschaftlichkeit in conflict kommt. Schulmäſsige behandlung oder wenigstens eine beträchtliche ver- flachung ihres niveaus muſste die grammatik aber überhaupt vornehmen, wenn sie weiteren kreisen irgendwelche alte poesie erschlieſsen wollte. denn trotz allem attisch parliren, trotz den totenerweckungen des duales, der dative οἱ und σφίσι, des doppelten t statt doppeltem s, so schöner vor 300 verstorbner formen wie γεγράφαται und νᾶπυ und von tausend vocabeln konnten die herren Titianus und Lucianus, die sich Τιτάνιος, v. Wilamowitz I. 12

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/197>, abgerufen am 26.04.2024.