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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Was ist eine attische tragödie?
imponirende gestalt: aber diese sorte von poesie, wo die mythische er-
zählung in conventioneller stilisirung und unerträgliche aufzählungen vo[n]
früher gewonnenen turnprämien, complimente an turnlehrer und reit-
knechte neben einander stehen und das was wahre individuelle poesie ist
auf einen kärglichen raum zurückdrängen, ist ein fragwürdiges product
einer mischcultur, erwachsen in einer gesellschaft, deren sämmtliche
lebensformen sich überlebt haben und den stempel des verfalles tragen.
die sage ist äusserlich zu einer decoration herabgedrückt und innerlich hat
sie dennoch die übermacht und erstickt die reine flamme der subjectivität
selbst ein Pindar vermag sich weder ganz in die sage zu versenken noch
auch sie ganz auszuscheiden.

In der heimat des epos war man weiter; die culturentwickelung
war eben dort immer um ein par jahrhunderte voraus. während im mutter-
lande das epos noch neue stoffliche aufgaben in überfülle zu bewältigen
hatte, war hier in Ionien der moment der erstarrung für die epische sage
schon um 700 eingetreten. energische dichterpersönlichkeiten waren er-
standen, hatten für ihre liebe und ihren hass, ihre gefühle und ihre ge-
danken sich die waffen der elegie und des iambos geschmiedet, und damit
auch der sprache des lebens die litterarische weihe gegeben. die revo-
lutionen in den städten und die seit 600 immer weiter greifende, durch
Harpagos auf die ganze küste ausgedehnte fremdherrschaft hatte auch die
heroischen ideale gestürzt. die menschen waren über die zeit hinaus,
welche durch die sage befriedigt wird. in rücksichtslosester weise drängte
sich die subjectivität hervor; der einzelne, der selbsterworbenen weisheit
voll, begnügte sich nicht nur nicht mehr mit den errungenschaften des
volkes, sondern er trat ihm voll verachtung entgegen, der weise den blinden
toren. und die sage trifft vollends hass und verachtung. da sagt einer edize-
samen emouton, verkündet den ewigen logos, den er besitzt, die anderen
menschen aber weder kennen noch, wenn er ihn verkündet, verstehen, und
schilt auf Homer und Hesiod. und der zweite sagt Ekataios ode muthei-
tai; tade grapho os moi alethea dokei einai; oi gar Ellenon logoi
polloi te kai geloioi, os emoi phainontai, eisin. und der dritte ver-
wirft die alten götter und ihre propheten, die epiker, und erklärt die ge-
stalten der sage für plasmata ton proteron. der tag ist da, wo die
istorie und philosophia des einzelnen die des volkes ersetzt, wo die
wissenschaft die sage ablöst. so weit war Ionien zur zeit des Aischylos.

Athen steht zwischen Ionien und den Dorern. Solon und die tyrannen
haben die front des staates, die früher ganz nach westen gerichtet war, nach
osten gewandt. Solon und Kleisthenes haben das joch der vermorschten

Was ist eine attische tragödie?
imponirende gestalt: aber diese sorte von poesie, wo die mythische er-
zählung in conventioneller stilisirung und unerträgliche aufzählungen vo[n]
früher gewonnenen turnprämien, complimente an turnlehrer und reit-
knechte neben einander stehen und das was wahre individuelle poesie ist
auf einen kärglichen raum zurückdrängen, ist ein fragwürdiges product
einer mischcultur, erwachsen in einer gesellschaft, deren sämmtliche
lebensformen sich überlebt haben und den stempel des verfalles tragen.
die sage ist äuſserlich zu einer decoration herabgedrückt und innerlich hat
sie dennoch die übermacht und erstickt die reine flamme der subjectivität
selbst ein Pindar vermag sich weder ganz in die sage zu versenken noch
auch sie ganz auszuscheiden.

In der heimat des epos war man weiter; die culturentwickelung
war eben dort immer um ein par jahrhunderte voraus. während im mutter-
lande das epos noch neue stoffliche aufgaben in überfülle zu bewältigen
hatte, war hier in Ionien der moment der erstarrung für die epische sage
schon um 700 eingetreten. energische dichterpersönlichkeiten waren er-
standen, hatten für ihre liebe und ihren haſs, ihre gefühle und ihre ge-
danken sich die waffen der elegie und des iambos geschmiedet, und damit
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Harpagos auf die ganze küste ausgedehnte fremdherrschaft hatte auch die
heroischen ideale gestürzt. die menschen waren über die zeit hinaus,
welche durch die sage befriedigt wird. in rücksichtslosester weise drängte
sich die subjectivität hervor; der einzelne, der selbsterworbenen weisheit
voll, begnügte sich nicht nur nicht mehr mit den errungenschaften des
volkes, sondern er trat ihm voll verachtung entgegen, der weise den blinden
toren. und die sage trifft vollends haſs und verachtung. da sagt einer ἐδιζη-
σάμην ἐμωυτόν, verkündet den ewigen λόγος, den er besitzt, die anderen
menschen aber weder kennen noch, wenn er ihn verkündet, verstehen, und
schilt auf Homer und Hesiod. und der zweite sagt Ἑκαταῖος ὧδε μυϑεῖ-
ται· τάδε γράφω ὥς μοι ἀληϑέα δοκεῖ εἶναι· οἱ γὰρ Ἑλλήνων λόγοι
πολλοί τε καὶ γελοῖοι, ὡς ἐμοὶ φαίνονται, εἰσίν. und der dritte ver-
wirft die alten götter und ihre propheten, die epiker, und erklärt die ge-
stalten der sage für πλάσματα τῶν προτέρων. der tag ist da, wo die
ἱστορίη und φιλοσοφία des einzelnen die des volkes ersetzt, wo die
wissenschaft die sage ablöst. so weit war Ionien zur zeit des Aischylos.

Athen steht zwischen Ionien und den Dorern. Solon und die tyrannen
haben die front des staates, die früher ganz nach westen gerichtet war, nach
osten gewandt. Solon und Kleisthenes haben das joch der vermorschten

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[104/0124] Was ist eine attische tragödie? imponirende gestalt: aber diese sorte von poesie, wo die mythische er- zählung in conventioneller stilisirung und unerträgliche aufzählungen von früher gewonnenen turnprämien, complimente an turnlehrer und reit- knechte neben einander stehen und das was wahre individuelle poesie ist auf einen kärglichen raum zurückdrängen, ist ein fragwürdiges product einer mischcultur, erwachsen in einer gesellschaft, deren sämmtliche lebensformen sich überlebt haben und den stempel des verfalles tragen. die sage ist äuſserlich zu einer decoration herabgedrückt und innerlich hat sie dennoch die übermacht und erstickt die reine flamme der subjectivität selbst ein Pindar vermag sich weder ganz in die sage zu versenken noch auch sie ganz auszuscheiden. In der heimat des epos war man weiter; die culturentwickelung war eben dort immer um ein par jahrhunderte voraus. während im mutter- lande das epos noch neue stoffliche aufgaben in überfülle zu bewältigen hatte, war hier in Ionien der moment der erstarrung für die epische sage schon um 700 eingetreten. energische dichterpersönlichkeiten waren er- standen, hatten für ihre liebe und ihren haſs, ihre gefühle und ihre ge- danken sich die waffen der elegie und des iambos geschmiedet, und damit auch der sprache des lebens die litterarische weihe gegeben. die revo- lutionen in den städten und die seit 600 immer weiter greifende, durch Harpagos auf die ganze küste ausgedehnte fremdherrschaft hatte auch die heroischen ideale gestürzt. die menschen waren über die zeit hinaus, welche durch die sage befriedigt wird. in rücksichtslosester weise drängte sich die subjectivität hervor; der einzelne, der selbsterworbenen weisheit voll, begnügte sich nicht nur nicht mehr mit den errungenschaften des volkes, sondern er trat ihm voll verachtung entgegen, der weise den blinden toren. und die sage trifft vollends haſs und verachtung. da sagt einer ἐδιζη- σάμην ἐμωυτόν, verkündet den ewigen λόγος, den er besitzt, die anderen menschen aber weder kennen noch, wenn er ihn verkündet, verstehen, und schilt auf Homer und Hesiod. und der zweite sagt Ἑκαταῖος ὧδε μυϑεῖ- ται· τάδε γράφω ὥς μοι ἀληϑέα δοκεῖ εἶναι· οἱ γὰρ Ἑλλήνων λόγοι πολλοί τε καὶ γελοῖοι, ὡς ἐμοὶ φαίνονται, εἰσίν. und der dritte ver- wirft die alten götter und ihre propheten, die epiker, und erklärt die ge- stalten der sage für πλάσματα τῶν προτέρων. der tag ist da, wo die ἱστορίη und φιλοσοφία des einzelnen die des volkes ersetzt, wo die wissenschaft die sage ablöst. so weit war Ionien zur zeit des Aischylos. Athen steht zwischen Ionien und den Dorern. Solon und die tyrannen haben die front des staates, die früher ganz nach westen gerichtet war, nach osten gewandt. Solon und Kleisthenes haben das joch der vermorschten

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/124>, abgerufen am 26.04.2024.