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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Die heldensage; ihr wesen.
'in widerlicher gestaltt'. lediglich das gefühl, das überwältigend aus dem
eignen busen aufquilltt, offenbart dem menschen die gottheit -- wie er dies
gefühl verkörpert und benennt, ist im grunde etwas unwesentliches und
immer etwas accessoriisches. die wirkung empfindet er in wonnen und in
tränen: die ursache sucht er, ahnt er, glaubt er, betet er an. so die einzelne
menschenseele, so die seele des volkes. die götter wirken freilich, natür-
lich; denn täten sie es nicht, so wären sie so nichtig wie die götter
Epikurs. sie wirken auch unmittelbar und sinnfällig; denn täten sie es
nicht, so wären sie so gleichgiltig wie der aristotelische gott: aber sie
sind stetige gewalten. sie haben die dauer: der menschen leben gehört
dem wechsel. auch am elementaren ist mit nichten die vereinzelte kata-
strophe, etwa das gewitter, was die gottheit dem natürlichen sinne offen-
bart, sondern die ewigen gesetze. das wunder, die ausnahme, ist dumm;
wunder tun kann der teufel auch: nur die regel gehört der ewigen weis-
heit. Goethe hat erklärt, dass er sich ohne weiteres geneigt fühle, die
sonne anzubeten: warum? wenn sie auch sinkt: von osten, hoffe nur,
kommt sie zurück. am abend der seine qualen endet findet Manfred
frieden im anschauen der ewigen sonne. Platon und Aristoteles haben
ebenso empfunden wie Goethe und Byron und aus der gesetzmässigkeit
des kosmischen lebens den stärksten religiösen impuls hergeleitet. 62) das
menschenherz ist ruhelos: es sucht den frieden; an ihm zerren die wider-
sprüche: es sucht die harmonie. das irdische kennt nur ein ewiges
werden: es sucht das ewige sein: und wo immer es dieses findet, da hat
es die gottheit gefundlen.

Werden ist geschichte: vom sein kann es keine geschichte geben.
darum haben die götter mit der sage ihrer natur nach nichts zu tun,
und darum ist aus der göttergeschichte, die es gleichwol gibt, für die
religion so viel und so wenig zu lernen wie aus irgend einer theologie.
sage und religion stehen neben einander. die religion wird wie alles so
auch die sage durchdringen: aber wenn die sage in die religion dringt,
so ist das etwas fremdes. die vermischung ist gefährlich, wird schliesslich
verderblich, aber unvermeidlich ist sie allerdings. denn wie von seiner
geschichte und seinem staate und rechte versucht das volk auch von seinen
göttern sich ein bild zu machen, und auch das tut es auf dem wege, dass
es eine geschichte vom dem werden und handeln der götter ersinnt. in

62) Auch Nathan sagt 'der wunder höchstes ist, dass uns die wahren echten
wunder so alltäglich werden können, werden sollen'. Lessing erfasst das nur durch
raisonnement, aber er erfasst es doch. die wirklichen dichter geben die offenbarung
unmittelbar.
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Die heldensage; ihr wesen.
‘in widerlicher gestaltt’. lediglich das gefühl, das überwältigend aus dem
eignen busen aufquilltt, offenbart dem menschen die gottheit — wie er dies
gefühl verkörpert und benennt, ist im grunde etwas unwesentliches und
immer etwas accessoriisches. die wirkung empfindet er in wonnen und in
tränen: die ursache sucht er, ahnt er, glaubt er, betet er an. so die einzelne
menschenseele, so die seele des volkes. die götter wirken freilich, natür-
lich; denn täten sie es nicht, so wären sie so nichtig wie die götter
Epikurs. sie wirken auch unmittelbar und sinnfällig; denn täten sie es
nicht, so wären sie so gleichgiltig wie der aristotelische gott: aber sie
sind stetige gewalten. sie haben die dauer: der menschen leben gehört
dem wechsel. auch am elementaren ist mit nichten die vereinzelte kata-
strophe, etwa das gewitter, was die gottheit dem natürlichen sinne offen-
bart, sondern die ewigen gesetze. das wunder, die ausnahme, ist dumm;
wunder tun kann der teufel auch: nur die regel gehört der ewigen weis-
heit. Goethe hat erklärt, daſs er sich ohne weiteres geneigt fühle, die
sonne anzubeten: warum? wenn sie auch sinkt: von osten, hoffe nur,
kommt sie zurück. am abend der seine qualen endet findet Manfred
frieden im anschauen der ewigen sonne. Platon und Aristoteles haben
ebenso empfunden wie Goethe und Byron und aus der gesetzmäſsigkeit
des kosmischen lebens den stärksten religiösen impuls hergeleitet. 62) das
menschenherz ist ruhelos: es sucht den frieden; an ihm zerren die wider-
sprüche: es sucht die harmonie. das irdische kennt nur ein ewiges
werden: es sucht das ewige sein: und wo immer es dieses findet, da hat
es die gottheit gefundlen.

Werden ist geschichte: vom sein kann es keine geschichte geben.
darum haben die götter mit der sage ihrer natur nach nichts zu tun,
und darum ist aus der göttergeschichte, die es gleichwol gibt, für die
religion so viel und so wenig zu lernen wie aus irgend einer theologie.
sage und religion stehen neben einander. die religion wird wie alles so
auch die sage durchdringen: aber wenn die sage in die religion dringt,
so ist das etwas fremdes. die vermischung ist gefährlich, wird schlieſslich
verderblich, aber unvermeidlich ist sie allerdings. denn wie von seiner
geschichte und seinem staate und rechte versucht das volk auch von seinen
göttern sich ein bild zu machen, und auch das tut es auf dem wege, daſs
es eine geschichte vom dem werden und handeln der götter ersinnt. in

62) Auch Nathan sagt ‘der wunder höchstes ist, daſs uns die wahren echten
wunder so alltäglich werden können, werden sollen’. Lessing erfaſst das nur durch
raisonnement, aber er erfaſst es doch. die wirklichen dichter geben die offenbarung
unmittelbar.
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[99/0119] Die heldensage; ihr wesen. ‘in widerlicher gestaltt’. lediglich das gefühl, das überwältigend aus dem eignen busen aufquilltt, offenbart dem menschen die gottheit — wie er dies gefühl verkörpert und benennt, ist im grunde etwas unwesentliches und immer etwas accessoriisches. die wirkung empfindet er in wonnen und in tränen: die ursache sucht er, ahnt er, glaubt er, betet er an. so die einzelne menschenseele, so die seele des volkes. die götter wirken freilich, natür- lich; denn täten sie es nicht, so wären sie so nichtig wie die götter Epikurs. sie wirken auch unmittelbar und sinnfällig; denn täten sie es nicht, so wären sie so gleichgiltig wie der aristotelische gott: aber sie sind stetige gewalten. sie haben die dauer: der menschen leben gehört dem wechsel. auch am elementaren ist mit nichten die vereinzelte kata- strophe, etwa das gewitter, was die gottheit dem natürlichen sinne offen- bart, sondern die ewigen gesetze. das wunder, die ausnahme, ist dumm; wunder tun kann der teufel auch: nur die regel gehört der ewigen weis- heit. Goethe hat erklärt, daſs er sich ohne weiteres geneigt fühle, die sonne anzubeten: warum? wenn sie auch sinkt: von osten, hoffe nur, kommt sie zurück. am abend der seine qualen endet findet Manfred frieden im anschauen der ewigen sonne. Platon und Aristoteles haben ebenso empfunden wie Goethe und Byron und aus der gesetzmäſsigkeit des kosmischen lebens den stärksten religiösen impuls hergeleitet. 62) das menschenherz ist ruhelos: es sucht den frieden; an ihm zerren die wider- sprüche: es sucht die harmonie. das irdische kennt nur ein ewiges werden: es sucht das ewige sein: und wo immer es dieses findet, da hat es die gottheit gefundlen. Werden ist geschichte: vom sein kann es keine geschichte geben. darum haben die götter mit der sage ihrer natur nach nichts zu tun, und darum ist aus der göttergeschichte, die es gleichwol gibt, für die religion so viel und so wenig zu lernen wie aus irgend einer theologie. sage und religion stehen neben einander. die religion wird wie alles so auch die sage durchdringen: aber wenn die sage in die religion dringt, so ist das etwas fremdes. die vermischung ist gefährlich, wird schlieſslich verderblich, aber unvermeidlich ist sie allerdings. denn wie von seiner geschichte und seinem staate und rechte versucht das volk auch von seinen göttern sich ein bild zu machen, und auch das tut es auf dem wege, daſs es eine geschichte vom dem werden und handeln der götter ersinnt. in 62) Auch Nathan sagt ‘der wunder höchstes ist, daſs uns die wahren echten wunder so alltäglich werden können, werden sollen’. Lessing erfaſst das nur durch raisonnement, aber er erfaſst es doch. die wirklichen dichter geben die offenbarung unmittelbar. 7*

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/119>, abgerufen am 26.04.2024.