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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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ihre vorurteile. aber er hat allerdings das ihnen zumeist fremde
ionische wesen in sich aufgenommen. wie er die aeginetische währung
mit der chalkidischen vertauscht hat, so wendet er den attischen sinn von
den dorischen zu den ionischen nomizomena überhaupt. er wird ein
dichter in der ionischen form der elegie und des iambus; er bemäch-
tigt sich dieses neuen organs, mit dem der Ionier seine gedanken und
urteile und seinen willen dem publicum zu übermitteln gelernt hatte.
damit gewinnt er über die massen die herrschaft, zwingt sie wie er
zu empfinden und ihm zu folgen. die mundart der Athener stand der
homerischen kunstsprache, die der Ionier in den neuen massen der
rede seines mundes anpasste, gewiss damals nicht näher als ein jahr-
hundert später: die leistung des dichters Solon ist also eine bedeutende,
beginnt er doch die attische litteratur. aber ganz abgesehen von dem
formalen studium, das seine gedichte zur voraussetzung haben, hat er sein
ganzes denken und empfinden ionisch machen müssen, menschlich, modern
für seine zeit. halten wir doch die attischen werke etwa der gleichen periode
neben ihn: wie gross ist der abstand. die köstliche darstellungsfreude,
mit der der bildner des Typhongiebels seine scheusale in aller derbheit
aus seinem weichen stein schnitzt, das ist das alte Athen, dasselbe, das
ein par generationen früher leichenzüge und seeschlachten mit kind-
lichen mitteln auf die tonkrüge pinselte, ungeschlacht autochthonisch, aber
mit ächt attischer enargeia. wir werden diese in den solonischen
schilderungen des lebens nicht verkennen; der Athener ist dem trotz
aller caricatur schematischen Semonides weit überlegen. aber er hat
einen gebildeten stil, seine sprache ist überhaupt nicht archaisch. die
Francoisvase entzückt uns durch die epische erzählungskunst ihrer bilder;
der abglanz der ganzen grossen sagenherrlichkeit ruht auf ihr, die im
mutterlande noch alle herzen beherrschte. in Ionien war sie schon
verblasst; die demokratie hatte die nachkommen der heroen zurückge-
drängt, und Mimnermos konnte die sage bereits, ein vorläufer der Alexan-
driner, zu spielendem schmucke verwenden. bei Solon tritt sie ganz
und gar zurück. dem pompösen wesen des rittertumes ist sein ein-
facher sinn vollends abgeneigt: er hat es in der beschänkung des
gräberluxus bewiesen, und in denselben gesetzen dem aberglauben ge-
steuert, über den er durchaus erhaben ist. aber die einfache attische
frömmigkeit hat er sich bewahrt, trotz allem menschlichen denken und
aller modernen weisheit: auch für ihn hält die göttin schirmend ihre
hand über ihrem Athen, so dass der himmlische vater es gar nicht
untergehen lassen kann. und das vertrauen auf die gerechtigkeit des

II. 2. Von Kekrops bis Solon.
ihre vorurteile. aber er hat allerdings das ihnen zumeist fremde
ionische wesen in sich aufgenommen. wie er die aeginetische währung
mit der chalkidischen vertauscht hat, so wendet er den attischen sinn von
den dorischen zu den ionischen νομιζόμενα überhaupt. er wird ein
dichter in der ionischen form der elegie und des iambus; er bemäch-
tigt sich dieses neuen organs, mit dem der Ionier seine gedanken und
urteile und seinen willen dem publicum zu übermitteln gelernt hatte.
damit gewinnt er über die massen die herrschaft, zwingt sie wie er
zu empfinden und ihm zu folgen. die mundart der Athener stand der
homerischen kunstsprache, die der Ionier in den neuen maſsen der
rede seines mundes anpaſste, gewiſs damals nicht näher als ein jahr-
hundert später: die leistung des dichters Solon ist also eine bedeutende,
beginnt er doch die attische litteratur. aber ganz abgesehen von dem
formalen studium, das seine gedichte zur voraussetzung haben, hat er sein
ganzes denken und empfinden ionisch machen müssen, menschlich, modern
für seine zeit. halten wir doch die attischen werke etwa der gleichen periode
neben ihn: wie groſs ist der abstand. die köstliche darstellungsfreude,
mit der der bildner des Typhongiebels seine scheusale in aller derbheit
aus seinem weichen stein schnitzt, das ist das alte Athen, dasselbe, das
ein par generationen früher leichenzüge und seeschlachten mit kind-
lichen mitteln auf die tonkrüge pinselte, ungeschlacht autochthonisch, aber
mit ächt attischer ἐνάϱγεια. wir werden diese in den solonischen
schilderungen des lebens nicht verkennen; der Athener ist dem trotz
aller caricatur schematischen Semonides weit überlegen. aber er hat
einen gebildeten stil, seine sprache ist überhaupt nicht archaisch. die
Françoisvase entzückt uns durch die epische erzählungskunst ihrer bilder;
der abglanz der ganzen grossen sagenherrlichkeit ruht auf ihr, die im
mutterlande noch alle herzen beherrschte. in Ionien war sie schon
verblaſst; die demokratie hatte die nachkommen der heroen zurückge-
drängt, und Mimnermos konnte die sage bereits, ein vorläufer der Alexan-
driner, zu spielendem schmucke verwenden. bei Solon tritt sie ganz
und gar zurück. dem pompösen wesen des rittertumes ist sein ein-
facher sinn vollends abgeneigt: er hat es in der beschänkung des
gräberluxus bewiesen, und in denselben gesetzen dem aberglauben ge-
steuert, über den er durchaus erhaben ist. aber die einfache attische
frömmigkeit hat er sich bewahrt, trotz allem menschlichen denken und
aller modernen weisheit: auch für ihn hält die göttin schirmend ihre
hand über ihrem Athen, so daſs der himmlische vater es gar nicht
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[60/0070] II. 2. Von Kekrops bis Solon. ihre vorurteile. aber er hat allerdings das ihnen zumeist fremde ionische wesen in sich aufgenommen. wie er die aeginetische währung mit der chalkidischen vertauscht hat, so wendet er den attischen sinn von den dorischen zu den ionischen νομιζόμενα überhaupt. er wird ein dichter in der ionischen form der elegie und des iambus; er bemäch- tigt sich dieses neuen organs, mit dem der Ionier seine gedanken und urteile und seinen willen dem publicum zu übermitteln gelernt hatte. damit gewinnt er über die massen die herrschaft, zwingt sie wie er zu empfinden und ihm zu folgen. die mundart der Athener stand der homerischen kunstsprache, die der Ionier in den neuen maſsen der rede seines mundes anpaſste, gewiſs damals nicht näher als ein jahr- hundert später: die leistung des dichters Solon ist also eine bedeutende, beginnt er doch die attische litteratur. aber ganz abgesehen von dem formalen studium, das seine gedichte zur voraussetzung haben, hat er sein ganzes denken und empfinden ionisch machen müssen, menschlich, modern für seine zeit. halten wir doch die attischen werke etwa der gleichen periode neben ihn: wie groſs ist der abstand. die köstliche darstellungsfreude, mit der der bildner des Typhongiebels seine scheusale in aller derbheit aus seinem weichen stein schnitzt, das ist das alte Athen, dasselbe, das ein par generationen früher leichenzüge und seeschlachten mit kind- lichen mitteln auf die tonkrüge pinselte, ungeschlacht autochthonisch, aber mit ächt attischer ἐνάϱγεια. wir werden diese in den solonischen schilderungen des lebens nicht verkennen; der Athener ist dem trotz aller caricatur schematischen Semonides weit überlegen. aber er hat einen gebildeten stil, seine sprache ist überhaupt nicht archaisch. die Françoisvase entzückt uns durch die epische erzählungskunst ihrer bilder; der abglanz der ganzen grossen sagenherrlichkeit ruht auf ihr, die im mutterlande noch alle herzen beherrschte. in Ionien war sie schon verblaſst; die demokratie hatte die nachkommen der heroen zurückge- drängt, und Mimnermos konnte die sage bereits, ein vorläufer der Alexan- driner, zu spielendem schmucke verwenden. bei Solon tritt sie ganz und gar zurück. dem pompösen wesen des rittertumes ist sein ein- facher sinn vollends abgeneigt: er hat es in der beschänkung des gräberluxus bewiesen, und in denselben gesetzen dem aberglauben ge- steuert, über den er durchaus erhaben ist. aber die einfache attische frömmigkeit hat er sich bewahrt, trotz allem menschlichen denken und aller modernen weisheit: auch für ihn hält die göttin schirmend ihre hand über ihrem Athen, so daſs der himmlische vater es gar nicht untergehen lassen kann. und das vertrauen auf die gerechtigkeit des

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/70>, abgerufen am 26.04.2024.