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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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II. 12. Logos und euthuna.
als am ende des attischen jahres, mitte juli, ja der jahreswechsel wird
die rückkehr des Hagnon bestimmt haben. er ist in der versammlung
gegenwärtig, die über Perikles berät. während dieser letzten drei monate
des jahres kann die strategenwahl nicht wol stattgefunden haben, weder
während der feind im lande stand, noch während die elite der mili-
tärisch interessirten bürgerschaft im auslande war. verständigermassen
musste in kriegszeiten die wahl vor dem beginn der expeditionen ab-
gehalten werden, zumal wenn ein feindlicher einfall in aussicht stand.
dann ist sie aber 430 gehalten worden, ehe die pest ausbrach, ehe die
landbevölkerung der laureotischen halbinsel durch die verwüstung ihrer
felder erbittert war, in der stimmung des ersten kriegsjahres, und es
ist ganz undenkbar, dass Perikles nicht wiedergewählt wäre. der groll
gegen ihn brach los, während Hagnon in Thrakien war. Thukydides
erzählt das nachher, aber mit eti d estrategei II 59 deutet er, dem
ja doch die reihenfolge der ereignisse lebendig vor der seele steht, sein
zurückgreifen an. nun erzählt er den versuch des Perikles, die volksstim-
mung zu bändigen, wie sie ihm darauf in der grossen politik folgten, aber
doch nicht umhin konnten, ihn in geldbusse zu nehmen, und ou pollo
usteron zum strategen wieder wählten. es kann das nicht im frühjahr
429 geschehen sein: das wäre in einem leben, das nur nach monaten
noch zählte (er starb um den 1 september 429), nicht ou pollo
usteron. die zwischenzeit seiner ungnade und amtlosigkeit beläuft
sich nur auf ein par monate. wenn er also für 430/29 gewählt war
und für eben dasselbe jahr nachher wieder gewählt ward, so ist er ab-
gesetzt oder besser suspendirt worden. und wie sollte auch sonst eine
wiederwahl im jahre möglich sein, da doch keine stelle frei war noch
frei gemacht werden konnte. wir werden also lediglich durch die zeit-
rechnung zu demselben geführt wie durch die vorzüglichen nachrichten
über die formen des processes: Perikles ist abgesetzt worden, apekheiro-
tonethe, in der letzten prytanie des Euthydemos oder in der ersten
des Apollodoros. es kann auch bei dem jahreswechsel geschehen sein,
wo doch irgend welche formen der erneuten übernahme auch für den
continuirten magistrat bestanden haben müssen.

Der process ist nicht die einfache rechnungslegung gewesen, denn
das volk selbst hat seine form festgestellt. er ist auch keine eisangelie
beim volke gewesen, denn dann hätte ein kläger und eine formulirte
anklage da sein müssen55), während das volk die verschiedenen anklagen

55) Den kläger, der nachher vor den heliasten auftrat, konnte Plutarch bei
Krateros (cap. 32) nicht finden. er nennt cap. 35 Kleon, nach Idomeneus: der kommt

II. 12. Λόγος und εὔϑυνα.
als am ende des attischen jahres, mitte juli, ja der jahreswechsel wird
die rückkehr des Hagnon bestimmt haben. er ist in der versammlung
gegenwärtig, die über Perikles berät. während dieser letzten drei monate
des jahres kann die strategenwahl nicht wol stattgefunden haben, weder
während der feind im lande stand, noch während die elite der mili-
tärisch interessirten bürgerschaft im auslande war. verständigermaſsen
muſste in kriegszeiten die wahl vor dem beginn der expeditionen ab-
gehalten werden, zumal wenn ein feindlicher einfall in aussicht stand.
dann ist sie aber 430 gehalten worden, ehe die pest ausbrach, ehe die
landbevölkerung der laureotischen halbinsel durch die verwüstung ihrer
felder erbittert war, in der stimmung des ersten kriegsjahres, und es
ist ganz undenkbar, daſs Perikles nicht wiedergewählt wäre. der groll
gegen ihn brach los, während Hagnon in Thrakien war. Thukydides
erzählt das nachher, aber mit ἔτι δ̕ ἐστϱατήγει II 59 deutet er, dem
ja doch die reihenfolge der ereignisse lebendig vor der seele steht, sein
zurückgreifen an. nun erzählt er den versuch des Perikles, die volksstim-
mung zu bändigen, wie sie ihm darauf in der groſsen politik folgten, aber
doch nicht umhin konnten, ihn in geldbuſse zu nehmen, und οὐ πολλῷ
ὕστεϱον zum strategen wieder wählten. es kann das nicht im frühjahr
429 geschehen sein: das wäre in einem leben, das nur nach monaten
noch zählte (er starb um den 1 september 429), nicht οὐ πολλῷ
ὕστεϱον. die zwischenzeit seiner ungnade und amtlosigkeit beläuft
sich nur auf ein par monate. wenn er also für 430/29 gewählt war
und für eben dasselbe jahr nachher wieder gewählt ward, so ist er ab-
gesetzt oder besser suspendirt worden. und wie sollte auch sonst eine
wiederwahl im jahre möglich sein, da doch keine stelle frei war noch
frei gemacht werden konnte. wir werden also lediglich durch die zeit-
rechnung zu demselben geführt wie durch die vorzüglichen nachrichten
über die formen des processes: Perikles ist abgesetzt worden, ἀπεχειϱο-
τονήϑη, in der letzten prytanie des Euthydemos oder in der ersten
des Apollodoros. es kann auch bei dem jahreswechsel geschehen sein,
wo doch irgend welche formen der erneuten übernahme auch für den
continuirten magistrat bestanden haben müssen.

Der proceſs ist nicht die einfache rechnungslegung gewesen, denn
das volk selbst hat seine form festgestellt. er ist auch keine eisangelie
beim volke gewesen, denn dann hätte ein kläger und eine formulirte
anklage da sein müssen55), während das volk die verschiedenen anklagen

55) Den kläger, der nachher vor den heliasten auftrat, konnte Plutarch bei
Krateros (cap. 32) nicht finden. er nennt cap. 35 Kleon, nach Idomeneus: der kommt
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[248/0258] II. 12. Λόγος und εὔϑυνα. als am ende des attischen jahres, mitte juli, ja der jahreswechsel wird die rückkehr des Hagnon bestimmt haben. er ist in der versammlung gegenwärtig, die über Perikles berät. während dieser letzten drei monate des jahres kann die strategenwahl nicht wol stattgefunden haben, weder während der feind im lande stand, noch während die elite der mili- tärisch interessirten bürgerschaft im auslande war. verständigermaſsen muſste in kriegszeiten die wahl vor dem beginn der expeditionen ab- gehalten werden, zumal wenn ein feindlicher einfall in aussicht stand. dann ist sie aber 430 gehalten worden, ehe die pest ausbrach, ehe die landbevölkerung der laureotischen halbinsel durch die verwüstung ihrer felder erbittert war, in der stimmung des ersten kriegsjahres, und es ist ganz undenkbar, daſs Perikles nicht wiedergewählt wäre. der groll gegen ihn brach los, während Hagnon in Thrakien war. Thukydides erzählt das nachher, aber mit ἔτι δ̕ ἐστϱατήγει II 59 deutet er, dem ja doch die reihenfolge der ereignisse lebendig vor der seele steht, sein zurückgreifen an. nun erzählt er den versuch des Perikles, die volksstim- mung zu bändigen, wie sie ihm darauf in der groſsen politik folgten, aber doch nicht umhin konnten, ihn in geldbuſse zu nehmen, und οὐ πολλῷ ὕστεϱον zum strategen wieder wählten. es kann das nicht im frühjahr 429 geschehen sein: das wäre in einem leben, das nur nach monaten noch zählte (er starb um den 1 september 429), nicht οὐ πολλῷ ὕστεϱον. die zwischenzeit seiner ungnade und amtlosigkeit beläuft sich nur auf ein par monate. wenn er also für 430/29 gewählt war und für eben dasselbe jahr nachher wieder gewählt ward, so ist er ab- gesetzt oder besser suspendirt worden. und wie sollte auch sonst eine wiederwahl im jahre möglich sein, da doch keine stelle frei war noch frei gemacht werden konnte. wir werden also lediglich durch die zeit- rechnung zu demselben geführt wie durch die vorzüglichen nachrichten über die formen des processes: Perikles ist abgesetzt worden, ἀπεχειϱο- τονήϑη, in der letzten prytanie des Euthydemos oder in der ersten des Apollodoros. es kann auch bei dem jahreswechsel geschehen sein, wo doch irgend welche formen der erneuten übernahme auch für den continuirten magistrat bestanden haben müssen. Der proceſs ist nicht die einfache rechnungslegung gewesen, denn das volk selbst hat seine form festgestellt. er ist auch keine eisangelie beim volke gewesen, denn dann hätte ein kläger und eine formulirte anklage da sein müssen 55), während das volk die verschiedenen anklagen 55) Den kläger, der nachher vor den heliasten auftrat, konnte Plutarch bei Krateros (cap. 32) nicht finden. er nennt cap. 35 Kleon, nach Idomeneus: der kommt

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/258>, abgerufen am 27.04.2024.