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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Die elf verfassungen. die ephebie.
eingeführt war, hatte Aristoteles allerdings einsehen müssen, dass sein
früheres urteil falsch war; aber nur weil er früher die zurückdrängung
des rates mit den diaeten des volkes combinirt hatte, steht hier über
beides eine bemerkung. denn so verständlich diese verbindung psycho-
logisch ist, so wenig ist sie objectiv berechtigt, da eben kein zusammen-
hang zwischen den beiden massnahmen ist, die hier neben einander
stehn. wer gern interpretirt, d. h. fremden gedanken folgt, wird sich
an der stelle ein exempel nehmen: unzählige male wird in den akro-
amatischen schriften athetirt und umgestellt, um der dürren logik genüge
zu schaffen; wie aber reden wir denn auf dem katheder?

Nun geht es an den wichtigsten teil des ganzen buches, die geltende
staatsordnung. und da die politeia durch die politai gebildet wird,
steht eine definition dieses begriffes an der spitze, natürlich die juristische,
die er im dritten buche der Politik hinter der begrifflichen zurückstellt
(1275b). wenn sich daran die modalitäten schliessen, wie die bürger-
qualität des einzelnen festgestellt wird, so mag das noch her zu gehören
scheinen. aber die ausführliche schilderung der ephebie fällt eigentlich
aus der staatsordnung heraus. sie sondert sich auch durch die bequeme
und wortreiche behandlung von der knappheit des folgenden.

Die prüfung der jungen bürger ist den alten geschlechtern und bruder-Die ephebie.
schaften ganz entzogen: die phrateres spielen schlechthin keine rolle mehr,
wenn sich die parteien auch vor gericht auf ihr urteil noch berufen mögen.5)
über den sohn eines Keryx haben nicht die über viele gemeinden verstreuten
Keryken, sondern die gemeinde seines vaters die entscheidung. offenbar
war die alte organisation so verfallen, dass die zugehörigkeit zu einer
phratrie, ob sie gleich noch länger in den bürgerrechtsverleihungen berück-
sichtigt ward, gänzlich indifferent war. die grosse menge wird davon

grabes im Kerameikos gewürdigt ist (Pausan. I 29 10)? damit ist denn auch historisch
bewiesen, dass der dialog unächt ist und alle seine anspielungen auf menschen
und gedichte einer ziemlich ungeschickten gelehrsamkeit verdankt. er knüpft ja auch
klärlich an Xenophons Symposion an.
5) Das geschieht noch in den reden wider Eubulides, Makartatos, Leochares,
aber es sind immer nur argumente, keine wirklichen beweise, und wenn es so zu-
gieng, wie in der letzten rede (41) berichtet wird, dass ein phrater die eintragung
eines erwachsenen menschen zu beliebiger zeit vornehmen konnte, so tat das gericht
auch gut, diese listen gar nicht zu berücksichtigen. für das nähere vgl. die bei-
lage 'die phratrie der Demotioniden'. die alte ordnung hatte das geschlechterfest, die
Apaturien, für die eintragung der kinder bestimmt: die prüfung und einstellung der
epheben ist einen monat vorher, mitte Boedromion, fertig, wie die lobdecrete für
die entlassenen und ihre lehrer beweisen.

Die elf verfassungen. die ephebie.
eingeführt war, hatte Aristoteles allerdings einsehen müssen, daſs sein
früheres urteil falsch war; aber nur weil er früher die zurückdrängung
des rates mit den diaeten des volkes combinirt hatte, steht hier über
beides eine bemerkung. denn so verständlich diese verbindung psycho-
logisch ist, so wenig ist sie objectiv berechtigt, da eben kein zusammen-
hang zwischen den beiden maſsnahmen ist, die hier neben einander
stehn. wer gern interpretirt, d. h. fremden gedanken folgt, wird sich
an der stelle ein exempel nehmen: unzählige male wird in den akro-
amatischen schriften athetirt und umgestellt, um der dürren logik genüge
zu schaffen; wie aber reden wir denn auf dem katheder?

Nun geht es an den wichtigsten teil des ganzen buches, die geltende
staatsordnung. und da die πολιτεία durch die πολῖται gebildet wird,
steht eine definition dieses begriffes an der spitze, natürlich die juristische,
die er im dritten buche der Politik hinter der begrifflichen zurückstellt
(1275b). wenn sich daran die modalitäten schlieſsen, wie die bürger-
qualität des einzelnen festgestellt wird, so mag das noch her zu gehören
scheinen. aber die ausführliche schilderung der ephebie fällt eigentlich
aus der staatsordnung heraus. sie sondert sich auch durch die bequeme
und wortreiche behandlung von der knappheit des folgenden.

Die prüfung der jungen bürger ist den alten geschlechtern und bruder-Die ephebie.
schaften ganz entzogen: die φϱάτεϱες spielen schlechthin keine rolle mehr,
wenn sich die parteien auch vor gericht auf ihr urteil noch berufen mögen.5)
über den sohn eines Keryx haben nicht die über viele gemeinden verstreuten
Keryken, sondern die gemeinde seines vaters die entscheidung. offenbar
war die alte organisation so verfallen, daſs die zugehörigkeit zu einer
phratrie, ob sie gleich noch länger in den bürgerrechtsverleihungen berück-
sichtigt ward, gänzlich indifferent war. die groſse menge wird davon

grabes im Kerameikos gewürdigt ist (Pausan. I 29 10)? damit ist denn auch historisch
bewiesen, daſs der dialog unächt ist und alle seine anspielungen auf menschen
und gedichte einer ziemlich ungeschickten gelehrsamkeit verdankt. er knüpft ja auch
klärlich an Xenophons Symposion an.
5) Das geschieht noch in den reden wider Eubulides, Makartatos, Leochares,
aber es sind immer nur argumente, keine wirklichen beweise, und wenn es so zu-
gieng, wie in der letzten rede (41) berichtet wird, daſs ein phrater die eintragung
eines erwachsenen menschen zu beliebiger zeit vornehmen konnte, so tat das gericht
auch gut, diese listen gar nicht zu berücksichtigen. für das nähere vgl. die bei-
lage ‘die phratrie der Demotioniden’. die alte ordnung hatte das geschlechterfest, die
Apaturien, für die eintragung der kinder bestimmt: die prüfung und einstellung der
epheben ist einen monat vorher, mitte Boedromion, fertig, wie die lobdecrete für
die entlassenen und ihre lehrer beweisen.
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[189/0203] Die elf verfassungen. die ephebie. eingeführt war, hatte Aristoteles allerdings einsehen müssen, daſs sein früheres urteil falsch war; aber nur weil er früher die zurückdrängung des rates mit den diaeten des volkes combinirt hatte, steht hier über beides eine bemerkung. denn so verständlich diese verbindung psycho- logisch ist, so wenig ist sie objectiv berechtigt, da eben kein zusammen- hang zwischen den beiden maſsnahmen ist, die hier neben einander stehn. wer gern interpretirt, d. h. fremden gedanken folgt, wird sich an der stelle ein exempel nehmen: unzählige male wird in den akro- amatischen schriften athetirt und umgestellt, um der dürren logik genüge zu schaffen; wie aber reden wir denn auf dem katheder? Nun geht es an den wichtigsten teil des ganzen buches, die geltende staatsordnung. und da die πολιτεία durch die πολῖται gebildet wird, steht eine definition dieses begriffes an der spitze, natürlich die juristische, die er im dritten buche der Politik hinter der begrifflichen zurückstellt (1275b). wenn sich daran die modalitäten schlieſsen, wie die bürger- qualität des einzelnen festgestellt wird, so mag das noch her zu gehören scheinen. aber die ausführliche schilderung der ephebie fällt eigentlich aus der staatsordnung heraus. sie sondert sich auch durch die bequeme und wortreiche behandlung von der knappheit des folgenden. Die prüfung der jungen bürger ist den alten geschlechtern und bruder- schaften ganz entzogen: die φϱάτεϱες spielen schlechthin keine rolle mehr, wenn sich die parteien auch vor gericht auf ihr urteil noch berufen mögen. 5) über den sohn eines Keryx haben nicht die über viele gemeinden verstreuten Keryken, sondern die gemeinde seines vaters die entscheidung. offenbar war die alte organisation so verfallen, daſs die zugehörigkeit zu einer phratrie, ob sie gleich noch länger in den bürgerrechtsverleihungen berück- sichtigt ward, gänzlich indifferent war. die groſse menge wird davon 4) Die ephebie. 5) Das geschieht noch in den reden wider Eubulides, Makartatos, Leochares, aber es sind immer nur argumente, keine wirklichen beweise, und wenn es so zu- gieng, wie in der letzten rede (41) berichtet wird, daſs ein phrater die eintragung eines erwachsenen menschen zu beliebiger zeit vornehmen konnte, so tat das gericht auch gut, diese listen gar nicht zu berücksichtigen. für das nähere vgl. die bei- lage ‘die phratrie der Demotioniden’. die alte ordnung hatte das geschlechterfest, die Apaturien, für die eintragung der kinder bestimmt: die prüfung und einstellung der epheben ist einen monat vorher, mitte Boedromion, fertig, wie die lobdecrete für die entlassenen und ihre lehrer beweisen. 4) grabes im Kerameikos gewürdigt ist (Pausan. I 29 10)? damit ist denn auch historisch bewiesen, daſs der dialog unächt ist und alle seine anspielungen auf menschen und gedichte einer ziemlich ungeschickten gelehrsamkeit verdankt. er knüpft ja auch klärlich an Xenophons Symposion an.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/203>, abgerufen am 27.04.2024.