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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Aristeides. die oligarchische grundschrift.
sein recht war es, der allgemeinen schätzung des mannes entgegen zu
treten, wenn sie falsch war. aber dann musste er diesen nachweis
führen. amicus Plato, magis amica veritas, gewiss. auch in solchem
kampfe zu irren ist menschlich. aber hier hat er nicht nach der wahr-
heit gefragt, sondern die verläumdung ungeprüft aufgenommen und
weiter gegeben.

Aber der protest gegen das verfahren des Aristoteles ist hier nochDie oligar-
chische
grund-
schrift.

nicht am platze; die eigne sympathie nötigte ihn mir nur ab. hier
fragen wir lediglich, nachdem wir erkannt haben, wes geistes sie sind,
wo Aristoteles diese kritiken der grossen demagogen her hat. wir
haben schon mehrere stücke auf die oligarchische tendenzschriftstellerei
des ausgehenden fünften jahrhunderts zurückgeführt; einmal die öfter
auftauchende absprechende beurteilung Solons, die Aristoteles, dort
unbefangen prüfend, den blasphemein boulomenoi beilegt; sie hatte in
der erzählung von den dreissig ein zugehöriges stück. dann aber er-
schien gleicher herkunft der bericht über Drakon, wahrscheinlich auch
das actenmaterial, mit dem die thukydideische darstellung der revolution
von 411 berichtigt wird. es hat geschichtlich keine grosse bedeutung,
ob diese stücke alle auf dieselbe vorlage zurückgehen oder nicht; wichtig
ist es für die litterarische würdigung der schrift und die moralisch-
wissenschaftliche des Aristoteles. entscheidend wird dafür nicht die
gleiche entstehungszeit sein, zumal spuren der alten sprache ja auch in
den stücken vorliegen, die aus der chronik stammen, aber die tendenz
ist durchaus die gleiche, so dass ich immer mehr auf die annahme einer
einzigen bestimmten schrift hingedrängt worden bin. eine art recon-
struction wird das am kürzesten erkennen lassen.

"Man feiert den Solon als begründer der attischen demokratie. das ist
er freilich, aber damit ist gesagt, dass er der vater alles übels ist. die seisach-
thie hat er unternommen um sich und seine freunde zu bereichern, die
schleunigst ländereien kauften, wol wissend, dass die hypothekenschulden
niedergeschlagen würden. aus dieser quelle stammt der reichtum der Kallias
und Alkibiades und Konon, die sich jetzt gebärden, als repraesentirten
sie den alten und befestigten grundbesitz. 66) die wurzel der demokratie

wissen nur, dass er über die flucht des Themistokles hinaus gelebt hat, aber nach
der einschätzung der bündner keine rolle mehr spielt. die angabe des Nepos am
ende der biographie, dass er im vierten jahre postquam Themistocles Athenis erat
expulsus
gestorben wäre, ist schon darum unverwendbar, weil man nicht weiss, ob
der ausgangstermin der ostrakismos oder die flucht des Themistokles sein soll.
66) 404, als Alkibiades und Konon die intervention Persiens zu gunsten der
v. Wilamowitz, Aristoteles I. 11

Aristeides. die oligarchische grundschrift.
sein recht war es, der allgemeinen schätzung des mannes entgegen zu
treten, wenn sie falsch war. aber dann muſste er diesen nachweis
führen. amicus Plato, magis amica veritas, gewiſs. auch in solchem
kampfe zu irren ist menschlich. aber hier hat er nicht nach der wahr-
heit gefragt, sondern die verläumdung ungeprüft aufgenommen und
weiter gegeben.

Aber der protest gegen das verfahren des Aristoteles ist hier nochDie oligar-
chische
grund-
schrift.

nicht am platze; die eigne sympathie nötigte ihn mir nur ab. hier
fragen wir lediglich, nachdem wir erkannt haben, wes geistes sie sind,
wo Aristoteles diese kritiken der groſsen demagogen her hat. wir
haben schon mehrere stücke auf die oligarchische tendenzschriftstellerei
des ausgehenden fünften jahrhunderts zurückgeführt; einmal die öfter
auftauchende absprechende beurteilung Solons, die Aristoteles, dort
unbefangen prüfend, den βλασφημεῖν βουλόμενοι beilegt; sie hatte in
der erzählung von den dreiſsig ein zugehöriges stück. dann aber er-
schien gleicher herkunft der bericht über Drakon, wahrscheinlich auch
das actenmaterial, mit dem die thukydideische darstellung der revolution
von 411 berichtigt wird. es hat geschichtlich keine groſse bedeutung,
ob diese stücke alle auf dieselbe vorlage zurückgehen oder nicht; wichtig
ist es für die litterarische würdigung der schrift und die moralisch-
wissenschaftliche des Aristoteles. entscheidend wird dafür nicht die
gleiche entstehungszeit sein, zumal spuren der alten sprache ja auch in
den stücken vorliegen, die aus der chronik stammen, aber die tendenz
ist durchaus die gleiche, so daſs ich immer mehr auf die annahme einer
einzigen bestimmten schrift hingedrängt worden bin. eine art recon-
struction wird das am kürzesten erkennen lassen.

“Man feiert den Solon als begründer der attischen demokratie. das ist
er freilich, aber damit ist gesagt, daſs er der vater alles übels ist. die seisach-
thie hat er unternommen um sich und seine freunde zu bereichern, die
schleunigst ländereien kauften, wol wissend, daſs die hypothekenschulden
niedergeschlagen würden. aus dieser quelle stammt der reichtum der Kallias
und Alkibiades und Konon, die sich jetzt gebärden, als repraesentirten
sie den alten und befestigten grundbesitz. 66) die wurzel der demokratie

wissen nur, daſs er über die flucht des Themistokles hinaus gelebt hat, aber nach
der einschätzung der bündner keine rolle mehr spielt. die angabe des Nepos am
ende der biographie, daſs er im vierten jahre postquam Themistocles Athenis erat
expulsus
gestorben wäre, ist schon darum unverwendbar, weil man nicht weiſs, ob
der ausgangstermin der ostrakismos oder die flucht des Themistokles sein soll.
66) 404, als Alkibiades und Konon die intervention Persiens zu gunsten der
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[161/0175] Aristeides. die oligarchische grundschrift. sein recht war es, der allgemeinen schätzung des mannes entgegen zu treten, wenn sie falsch war. aber dann muſste er diesen nachweis führen. amicus Plato, magis amica veritas, gewiſs. auch in solchem kampfe zu irren ist menschlich. aber hier hat er nicht nach der wahr- heit gefragt, sondern die verläumdung ungeprüft aufgenommen und weiter gegeben. Aber der protest gegen das verfahren des Aristoteles ist hier noch nicht am platze; die eigne sympathie nötigte ihn mir nur ab. hier fragen wir lediglich, nachdem wir erkannt haben, wes geistes sie sind, wo Aristoteles diese kritiken der groſsen demagogen her hat. wir haben schon mehrere stücke auf die oligarchische tendenzschriftstellerei des ausgehenden fünften jahrhunderts zurückgeführt; einmal die öfter auftauchende absprechende beurteilung Solons, die Aristoteles, dort unbefangen prüfend, den βλασφημεῖν βουλόμενοι beilegt; sie hatte in der erzählung von den dreiſsig ein zugehöriges stück. dann aber er- schien gleicher herkunft der bericht über Drakon, wahrscheinlich auch das actenmaterial, mit dem die thukydideische darstellung der revolution von 411 berichtigt wird. es hat geschichtlich keine groſse bedeutung, ob diese stücke alle auf dieselbe vorlage zurückgehen oder nicht; wichtig ist es für die litterarische würdigung der schrift und die moralisch- wissenschaftliche des Aristoteles. entscheidend wird dafür nicht die gleiche entstehungszeit sein, zumal spuren der alten sprache ja auch in den stücken vorliegen, die aus der chronik stammen, aber die tendenz ist durchaus die gleiche, so daſs ich immer mehr auf die annahme einer einzigen bestimmten schrift hingedrängt worden bin. eine art recon- struction wird das am kürzesten erkennen lassen. Die oligar- chische grund- schrift. “Man feiert den Solon als begründer der attischen demokratie. das ist er freilich, aber damit ist gesagt, daſs er der vater alles übels ist. die seisach- thie hat er unternommen um sich und seine freunde zu bereichern, die schleunigst ländereien kauften, wol wissend, daſs die hypothekenschulden niedergeschlagen würden. aus dieser quelle stammt der reichtum der Kallias und Alkibiades und Konon, die sich jetzt gebärden, als repraesentirten sie den alten und befestigten grundbesitz. 66) die wurzel der demokratie 65) 66) 404, als Alkibiades und Konon die intervention Persiens zu gunsten der 65) wissen nur, daſs er über die flucht des Themistokles hinaus gelebt hat, aber nach der einschätzung der bündner keine rolle mehr spielt. die angabe des Nepos am ende der biographie, daſs er im vierten jahre postquam Themistocles Athenis erat expulsus gestorben wäre, ist schon darum unverwendbar, weil man nicht weiſs, ob der ausgangstermin der ostrakismos oder die flucht des Themistokles sein soll. v. Wilamowitz, Aristoteles I. 11

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/175>, abgerufen am 26.04.2024.