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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 5. Thukydides.
einem Thukydides unbekannt geblieben war. wenn Aristoteles über
Timonassa von Argos so viel zu sagen weiss, wobei er personen nennt,
die für ihn und seine leser unbekannt und unwesentlich sind, aber not-
wendig wolbekannt waren, als man durch ihre nennung die frau näher
bestimmte, so ist das eine der auf Argos bezüglichen angaben, die alle
mit einander zusammenhängen, und mit denen er den Herodotos sowol
in betreff der schlacht von Pallene wie auch bei dem sturze des Hippias
ergänzt. dies gehört also alles zusammen; es kann von den anderen
ergänzungen des herodoteischen berichtes über die tyrannis des Peisi-
stratos nicht getrennt werden, mit andern worten, es gehört in die Atthis:
deren zahlreichen bearbeitern steht auch die mehrfach angerufene viel-
heit von berichterstattern wol an, und diese haben, auch Hellanikos,
später geschrieben, als Thukydides über die tyrannen sein material sam-
melte und wenigstens die stellen des sechsten buches schrieb. dass Aristo-
geiton auf der folter die freunde des Hippias angibt, steht ähnlich bei
Polyaen (I 22). bei demselben kehrt auch die entwaffnung des volkes
durch eine list des Peisistratos und die flottengründung des Themistokles
wieder, ziemlich wie Aristoteles sie erzählt. auch da ist also eine viel aus-
gedehntere quellengemeinschaft vorhanden, und auf die Atthis werden wir
wieder mit überwiegender wahrscheinlichkeit geführt. darüber in capitel 8.
Ephoros, den wir wol bei Diodor X 17 voraussetzen dürfen, hat über
die folterung des Aristogeiton ähnlich berichtet wie Aristoteles und Polyaen,
im übrigen gibt er alberne fabeln. denn Hippias und Hipparchos treten
als die gemeinen tyrannen der rhetorischen schablone auf, Thessalos da-
gegen ist ein weiser mann und durch seine neigungen für freiheit und
gleichheit beliebt. mit andern worten, die rollen sind nun ganz ver-
tauscht zwischen Hipparchos und Thessalos. und wer als selbstverständ-
lich ansah, dass der tyrann schlecht sein musste, konnte der überlieferung
niemals glauben, die von Hipparchos überhaupt keine schuld kannte;
Ephoros hielt sich also darin an Thukydides. das nächste war dann
ein scheinbarer schluss, dass auch die liberalität eigentlich dem Thessalos
gehörte.

Ganz die charakteristik Hipparchs wie hier ist uns längst geläufig
aus dem sokratischen dialoge, den für platonisch niemand mehr hält.
dort kehrt seine freundschaft mit den dichtern wieder, auf die Aristo-
teles als eine notorische verweist: wir haben in den versen des Simonides
und Anakreon keine spuren mehr, aber natürlich waren dies die zeug-
nisse, auf denen der ruf seiner philomousia beruhte, die damit auch wirk-
lich erhärtet ist. der dialog führt aber noch mehr an, die fürsorge für

I. 5. Thukydides.
einem Thukydides unbekannt geblieben war. wenn Aristoteles über
Timonassa von Argos so viel zu sagen weiſs, wobei er personen nennt,
die für ihn und seine leser unbekannt und unwesentlich sind, aber not-
wendig wolbekannt waren, als man durch ihre nennung die frau näher
bestimmte, so ist das eine der auf Argos bezüglichen angaben, die alle
mit einander zusammenhängen, und mit denen er den Herodotos sowol
in betreff der schlacht von Pallene wie auch bei dem sturze des Hippias
ergänzt. dies gehört also alles zusammen; es kann von den anderen
ergänzungen des herodoteischen berichtes über die tyrannis des Peisi-
stratos nicht getrennt werden, mit andern worten, es gehört in die Atthis:
deren zahlreichen bearbeitern steht auch die mehrfach angerufene viel-
heit von berichterstattern wol an, und diese haben, auch Hellanikos,
später geschrieben, als Thukydides über die tyrannen sein material sam-
melte und wenigstens die stellen des sechsten buches schrieb. daſs Aristo-
geiton auf der folter die freunde des Hippias angibt, steht ähnlich bei
Polyaen (I 22). bei demselben kehrt auch die entwaffnung des volkes
durch eine list des Peisistratos und die flottengründung des Themistokles
wieder, ziemlich wie Aristoteles sie erzählt. auch da ist also eine viel aus-
gedehntere quellengemeinschaft vorhanden, und auf die Atthis werden wir
wieder mit überwiegender wahrscheinlichkeit geführt. darüber in capitel 8.
Ephoros, den wir wol bei Diodor X 17 voraussetzen dürfen, hat über
die folterung des Aristogeiton ähnlich berichtet wie Aristoteles und Polyaen,
im übrigen gibt er alberne fabeln. denn Hippias und Hipparchos treten
als die gemeinen tyrannen der rhetorischen schablone auf, Thessalos da-
gegen ist ein weiser mann und durch seine neigungen für freiheit und
gleichheit beliebt. mit andern worten, die rollen sind nun ganz ver-
tauscht zwischen Hipparchos und Thessalos. und wer als selbstverständ-
lich ansah, daſs der tyrann schlecht sein muſste, konnte der überlieferung
niemals glauben, die von Hipparchos überhaupt keine schuld kannte;
Ephoros hielt sich also darin an Thukydides. das nächste war dann
ein scheinbarer schluſs, daſs auch die liberalität eigentlich dem Thessalos
gehörte.

Ganz die charakteristik Hipparchs wie hier ist uns längst geläufig
aus dem sokratischen dialoge, den für platonisch niemand mehr hält.
dort kehrt seine freundschaft mit den dichtern wieder, auf die Aristo-
teles als eine notorische verweist: wir haben in den versen des Simonides
und Anakreon keine spuren mehr, aber natürlich waren dies die zeug-
nisse, auf denen der ruf seiner φιλομουσία beruhte, die damit auch wirk-
lich erhärtet ist. der dialog führt aber noch mehr an, die fürsorge für

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[118/0132] I. 5. Thukydides. einem Thukydides unbekannt geblieben war. wenn Aristoteles über Timonassa von Argos so viel zu sagen weiſs, wobei er personen nennt, die für ihn und seine leser unbekannt und unwesentlich sind, aber not- wendig wolbekannt waren, als man durch ihre nennung die frau näher bestimmte, so ist das eine der auf Argos bezüglichen angaben, die alle mit einander zusammenhängen, und mit denen er den Herodotos sowol in betreff der schlacht von Pallene wie auch bei dem sturze des Hippias ergänzt. dies gehört also alles zusammen; es kann von den anderen ergänzungen des herodoteischen berichtes über die tyrannis des Peisi- stratos nicht getrennt werden, mit andern worten, es gehört in die Atthis: deren zahlreichen bearbeitern steht auch die mehrfach angerufene viel- heit von berichterstattern wol an, und diese haben, auch Hellanikos, später geschrieben, als Thukydides über die tyrannen sein material sam- melte und wenigstens die stellen des sechsten buches schrieb. daſs Aristo- geiton auf der folter die freunde des Hippias angibt, steht ähnlich bei Polyaen (I 22). bei demselben kehrt auch die entwaffnung des volkes durch eine list des Peisistratos und die flottengründung des Themistokles wieder, ziemlich wie Aristoteles sie erzählt. auch da ist also eine viel aus- gedehntere quellengemeinschaft vorhanden, und auf die Atthis werden wir wieder mit überwiegender wahrscheinlichkeit geführt. darüber in capitel 8. Ephoros, den wir wol bei Diodor X 17 voraussetzen dürfen, hat über die folterung des Aristogeiton ähnlich berichtet wie Aristoteles und Polyaen, im übrigen gibt er alberne fabeln. denn Hippias und Hipparchos treten als die gemeinen tyrannen der rhetorischen schablone auf, Thessalos da- gegen ist ein weiser mann und durch seine neigungen für freiheit und gleichheit beliebt. mit andern worten, die rollen sind nun ganz ver- tauscht zwischen Hipparchos und Thessalos. und wer als selbstverständ- lich ansah, daſs der tyrann schlecht sein muſste, konnte der überlieferung niemals glauben, die von Hipparchos überhaupt keine schuld kannte; Ephoros hielt sich also darin an Thukydides. das nächste war dann ein scheinbarer schluſs, daſs auch die liberalität eigentlich dem Thessalos gehörte. Ganz die charakteristik Hipparchs wie hier ist uns längst geläufig aus dem sokratischen dialoge, den für platonisch niemand mehr hält. dort kehrt seine freundschaft mit den dichtern wieder, auf die Aristo- teles als eine notorische verweist: wir haben in den versen des Simonides und Anakreon keine spuren mehr, aber natürlich waren dies die zeug- nisse, auf denen der ruf seiner φιλομουσία beruhte, die damit auch wirk- lich erhärtet ist. der dialog führt aber noch mehr an, die fürsorge für

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/132>, abgerufen am 26.04.2024.