Du erinnerst dich, antwortete ihm Psyche, jener unglüklichen Stunde, da die eifersüchtige Pythia unsre Liebe, so geheim wir sie zu halten vermeynten, ent- dekte. Nichts war ihrer Wuth zu vergleichen, und es fehlte nur noch, daß ihre Rache nicht mein Leben zum Opfer verlangte; denn sie ließ mich einige Tage alles erfahren, was verschmähte Liebe erfinden kan, eine glükliche Nebenbuhlerin zu quälen. Ob sie es nun gleich in ihrer Gewalt hatte, mich deinen Augen gänzlich zu entziehen, so hielt sie sich doch niemals sicher, so lang ich zu Delphi seyn würde. Sie machte bald ein Mittel ausfündig, sich meiner zu entledigen, ohne einigen Arg- wohn zu erweken; sie schenkte mich einer Verwandten, die sie zu Syracus hatte, und weil sie mich an diesem Orte weit genug von dir entfernt hielt, säumte sie nicht, mich in der grösten Stille nach Corinth, und von da nach Sicilien bringen zu lassen. Die Thörin! kannte sie die Macht der Liebe nicht, die Agathon einflößt? Wußte sie nicht, daß keine Scheidung der Liebe durch Länder und Meere meine Seele verhindern könne, aus einer Zone in die andre zu fliegen, und gleich einem lie- benden Schatten um dich her zu schweben? Oder hof- te sie, reizender in deinen Augen zu werden, wenn du
mich
Agathon,
Sechſtes Capitel. Erzaͤhlung der Pſyche.
Du erinnerſt dich, antwortete ihm Pſyche, jener ungluͤklichen Stunde, da die eiferſuͤchtige Pythia unſre Liebe, ſo geheim wir ſie zu halten vermeynten, ent- dekte. Nichts war ihrer Wuth zu vergleichen, und es fehlte nur noch, daß ihre Rache nicht mein Leben zum Opfer verlangte; denn ſie ließ mich einige Tage alles erfahren, was verſchmaͤhte Liebe erfinden kan, eine gluͤkliche Nebenbuhlerin zu quaͤlen. Ob ſie es nun gleich in ihrer Gewalt hatte, mich deinen Augen gaͤnzlich zu entziehen, ſo hielt ſie ſich doch niemals ſicher, ſo lang ich zu Delphi ſeyn wuͤrde. Sie machte bald ein Mittel ausfuͤndig, ſich meiner zu entledigen, ohne einigen Arg- wohn zu erweken; ſie ſchenkte mich einer Verwandten, die ſie zu Syracus hatte, und weil ſie mich an dieſem Orte weit genug von dir entfernt hielt, ſaͤumte ſie nicht, mich in der groͤſten Stille nach Corinth, und von da nach Sicilien bringen zu laſſen. Die Thoͤrin! kannte ſie die Macht der Liebe nicht, die Agathon einfloͤßt? Wußte ſie nicht, daß keine Scheidung der Liebe durch Laͤnder und Meere meine Seele verhindern koͤnne, aus einer Zone in die andre zu fliegen, und gleich einem lie- benden Schatten um dich her zu ſchweben? Oder hof- te ſie, reizender in deinen Augen zu werden, wenn du
mich
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Agathon,
Sechſtes Capitel.
Erzaͤhlung der Pſyche.
Du erinnerſt dich, antwortete ihm Pſyche, jener
ungluͤklichen Stunde, da die eiferſuͤchtige Pythia unſre
Liebe, ſo geheim wir ſie zu halten vermeynten, ent-
dekte. Nichts war ihrer Wuth zu vergleichen, und es
fehlte nur noch, daß ihre Rache nicht mein Leben zum
Opfer verlangte; denn ſie ließ mich einige Tage alles
erfahren, was verſchmaͤhte Liebe erfinden kan, eine
gluͤkliche Nebenbuhlerin zu quaͤlen. Ob ſie es nun
gleich in ihrer Gewalt hatte, mich deinen Augen gaͤnzlich
zu entziehen, ſo hielt ſie ſich doch niemals ſicher, ſo lang ich
zu Delphi ſeyn wuͤrde. Sie machte bald ein Mittel
ausfuͤndig, ſich meiner zu entledigen, ohne einigen Arg-
wohn zu erweken; ſie ſchenkte mich einer Verwandten,
die ſie zu Syracus hatte, und weil ſie mich an dieſem
Orte weit genug von dir entfernt hielt, ſaͤumte ſie nicht,
mich in der groͤſten Stille nach Corinth, und von da
nach Sicilien bringen zu laſſen. Die Thoͤrin! kannte
ſie die Macht der Liebe nicht, die Agathon einfloͤßt?
Wußte ſie nicht, daß keine Scheidung der Liebe durch
Laͤnder und Meere meine Seele verhindern koͤnne, aus
einer Zone in die andre zu fliegen, und gleich einem lie-
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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/38>, abgerufen am 23.11.2024.
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