die noch nicht Kunst ist, wesentlich dadurch verschieden, daß sie sich nach außen erschließt, sich in einem technisch durchgeführten Gebilde mittheilt, wogegen das Gebilde der noch nicht künstlerisch thätigen Phantasie we- sentlich noch ein unreifes ist; ihr Erzeugniß hat also nicht nur Objecti- vität in dem Sinne, wie das innere Idealbild überhaupt, sondern die ganz entwickelte Objectivität der Kunstgestaltung; allein es bleibt in dieser Er- schließung nach außen doch innerlich und muß daher die Unbestimmtheit und Undeutlichkeit des Phantasiebildes, das sich noch gar nicht erschlossen hat, doch in irgend einem Sinne theilen; es hat Körper gewonnen, dessen Glieder in festem Kunstverhältniß stehen, aber dieß ist ein Körper, aus welchem der Blitz des Gedankens mit einer Bestimmtheit leuchtet, in welcher diejenige Bestimmtheit, Compactheit und Schärfe der Umrisse sich verzehrt, die dem Werke der bildenden Kunst eigen ist. Das vollständige, wirkliche Ausbreiten vor dem Auge bleibt der unendliche Vortheil des bildenden Künstlers vor dem Dichter. Es müssen nun auch die Incongruenzen stärker betont werden, welche schon zu §. 839, Anm. 1. berührt sind. Der Dichter wird der Undeutlichkeit, an welcher seine Bilder in Vergleichung mit denen des Malers leiden, durch ein Verweilen bei den einzelnen Zügen abzuhelfen streben. Allein es ist dieß in Wahrheit kein Verweilen, denn in Zeitform darstellend rückt er ja fort. Dieser wichtige Satz ist hier vorerst einfach hinzustellen, in der Lehre vom Styl aber genauer auseinanderzusetzen und in seine Consequenzen zu verfolgen. Es handelt sich jedoch nicht nur von der Deutlichkeit, sondern auch von der Gleichzeitigkeit. Wenn nämlich Mehreres, was auf weiten Räumen zu gleicher Zeit geschieht, dargestellt werden soll, so ist nicht die Vielheit an sich dem Dichter ein Hinderniß, denn die Phantasie schaut gleichzeitig Vieles und er mag sein Gesichtsfeld strecken, so weit er will, aber die Theile des Vielen bewegen sich in der Zeitform, ein Geschehen ist darzustellen und der Dichter kann nur Eine dieser gleichzeitig laufenden Linien nach der andern verfolgen. Dieß ist die andere Seite der Beengung, um welche er die freie Weite seiner Kunst erkauft; beide Seiten fassen sich zusammen in dem Widerspruche des Suc- cessiven mit dem Simultanen.
§. 841.
Dieser Verlust wird reichlich ersetzt durch das schlechthin Neue, was gewonnen ist. Zunächst liegt dieß in der Vereinigung des Räumlichen und Zeit- lichen: die Dichtkunst fesselt nicht einen Moment der Bewegung an das Neben- einander des Raumes, sondern ihre Gestalten bewegen sich vor dem innern Auge wirklich und sie führt daher eine Reihe von Momenten vorüber, deren Ab- schluß nur der künstlerische Zweck bestimmt. Dieser wesentliche Fortschritt vereinigt sich mit den in §. 838 hervorgehobenen Vortheilen.
die noch nicht Kunſt iſt, weſentlich dadurch verſchieden, daß ſie ſich nach außen erſchließt, ſich in einem techniſch durchgeführten Gebilde mittheilt, wogegen das Gebilde der noch nicht künſtleriſch thätigen Phantaſie we- ſentlich noch ein unreifes iſt; ihr Erzeugniß hat alſo nicht nur Objecti- vität in dem Sinne, wie das innere Idealbild überhaupt, ſondern die ganz entwickelte Objectivität der Kunſtgeſtaltung; allein es bleibt in dieſer Er- ſchließung nach außen doch innerlich und muß daher die Unbeſtimmtheit und Undeutlichkeit des Phantaſiebildes, das ſich noch gar nicht erſchloſſen hat, doch in irgend einem Sinne theilen; es hat Körper gewonnen, deſſen Glieder in feſtem Kunſtverhältniß ſtehen, aber dieß iſt ein Körper, aus welchem der Blitz des Gedankens mit einer Beſtimmtheit leuchtet, in welcher diejenige Beſtimmtheit, Compactheit und Schärfe der Umriſſe ſich verzehrt, die dem Werke der bildenden Kunſt eigen iſt. Das vollſtändige, wirkliche Ausbreiten vor dem Auge bleibt der unendliche Vortheil des bildenden Künſtlers vor dem Dichter. Es müſſen nun auch die Incongruenzen ſtärker betont werden, welche ſchon zu §. 839, Anm. 1. berührt ſind. Der Dichter wird der Undeutlichkeit, an welcher ſeine Bilder in Vergleichung mit denen des Malers leiden, durch ein Verweilen bei den einzelnen Zügen abzuhelfen ſtreben. Allein es iſt dieß in Wahrheit kein Verweilen, denn in Zeitform darſtellend rückt er ja fort. Dieſer wichtige Satz iſt hier vorerſt einfach hinzuſtellen, in der Lehre vom Styl aber genauer auseinanderzuſetzen und in ſeine Conſequenzen zu verfolgen. Es handelt ſich jedoch nicht nur von der Deutlichkeit, ſondern auch von der Gleichzeitigkeit. Wenn nämlich Mehreres, was auf weiten Räumen zu gleicher Zeit geſchieht, dargeſtellt werden ſoll, ſo iſt nicht die Vielheit an ſich dem Dichter ein Hinderniß, denn die Phantaſie ſchaut gleichzeitig Vieles und er mag ſein Geſichtsfeld ſtrecken, ſo weit er will, aber die Theile des Vielen bewegen ſich in der Zeitform, ein Geſchehen iſt darzuſtellen und der Dichter kann nur Eine dieſer gleichzeitig laufenden Linien nach der andern verfolgen. Dieß iſt die andere Seite der Beengung, um welche er die freie Weite ſeiner Kunſt erkauft; beide Seiten faſſen ſich zuſammen in dem Widerſpruche des Suc- ceſſiven mit dem Simultanen.
§. 841.
Dieſer Verluſt wird reichlich erſetzt durch das ſchlechthin Neue, was gewonnen iſt. Zunächſt liegt dieß in der Vereinigung des Räumlichen und Zeit- lichen: die Dichtkunſt feſſelt nicht einen Moment der Bewegung an das Neben- einander des Raumes, ſondern ihre Geſtalten bewegen ſich vor dem innern Auge wirklich und ſie führt daher eine Reihe von Momenten vorüber, deren Ab- ſchluß nur der künſtleriſche Zweck beſtimmt. Dieſer weſentliche Fortſchritt vereinigt ſich mit den in §. 838 hervorgehobenen Vortheilen.
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wogegen das Gebilde der noch nicht künſtleriſch thätigen Phantaſie we-
ſentlich noch ein unreifes iſt; ihr Erzeugniß hat alſo nicht nur Objecti-
vität in dem Sinne, wie das innere Idealbild überhaupt, ſondern die ganz
entwickelte Objectivität der Kunſtgeſtaltung; allein es bleibt in dieſer Er-
ſchließung nach außen doch innerlich und muß daher die Unbeſtimmtheit
und Undeutlichkeit des Phantaſiebildes, das ſich noch gar nicht erſchloſſen
hat, doch in irgend einem Sinne theilen; es hat Körper gewonnen, deſſen
Glieder in feſtem Kunſtverhältniß ſtehen, aber dieß iſt ein Körper, aus
welchem der Blitz des Gedankens mit einer Beſtimmtheit leuchtet, in welcher
diejenige Beſtimmtheit, Compactheit und Schärfe der Umriſſe ſich verzehrt,
die dem Werke der bildenden Kunſt eigen iſt. Das vollſtändige, wirkliche
Ausbreiten vor dem Auge bleibt der unendliche Vortheil des bildenden
Künſtlers vor dem Dichter. Es müſſen nun auch die Incongruenzen ſtärker
betont werden, welche ſchon zu §. 839, Anm. 1. berührt ſind. Der Dichter
wird der Undeutlichkeit, an welcher ſeine Bilder in Vergleichung mit denen
des Malers leiden, durch ein Verweilen bei den einzelnen Zügen abzuhelfen
ſtreben. Allein es iſt dieß in Wahrheit kein Verweilen, denn in Zeitform
darſtellend rückt er ja fort. Dieſer wichtige Satz iſt hier vorerſt einfach
hinzuſtellen, in der Lehre vom Styl aber genauer auseinanderzuſetzen und
in ſeine Conſequenzen zu verfolgen. Es handelt ſich jedoch nicht nur von
der Deutlichkeit, ſondern auch von der Gleichzeitigkeit. Wenn nämlich
Mehreres, was auf weiten Räumen zu gleicher Zeit geſchieht, dargeſtellt
werden ſoll, ſo iſt nicht die Vielheit an ſich dem Dichter ein Hinderniß,
denn die Phantaſie ſchaut gleichzeitig Vieles und er mag ſein Geſichtsfeld
ſtrecken, ſo weit er will, aber die Theile des Vielen bewegen ſich in der
Zeitform, ein Geſchehen iſt darzuſtellen und der Dichter kann nur Eine
dieſer gleichzeitig laufenden Linien nach der andern verfolgen. Dieß iſt die
andere Seite der Beengung, um welche er die freie Weite ſeiner Kunſt
erkauft; beide Seiten faſſen ſich zuſammen in dem Widerſpruche des Suc-
ceſſiven mit dem Simultanen.
§. 841.
Dieſer Verluſt wird reichlich erſetzt durch das ſchlechthin Neue, was
gewonnen iſt. Zunächſt liegt dieß in der Vereinigung des Räumlichen und Zeit-
lichen: die Dichtkunſt feſſelt nicht einen Moment der Bewegung an das Neben-
einander des Raumes, ſondern ihre Geſtalten bewegen ſich vor dem innern Auge
wirklich und ſie führt daher eine Reihe von Momenten vorüber, deren Ab-
ſchluß nur der künſtleriſche Zweck beſtimmt. Dieſer weſentliche Fortſchritt vereinigt
ſich mit den in §. 838 hervorgehobenen Vortheilen.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/46>, abgerufen am 21.11.2024.
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