Eindrücke gleichen den tonischen darin, daß die Sprache eigentlich keine Worte für sie hat, allein der Dichter kann das Object nennen und darauf gestützt genügen die unzulänglichen Sprachmittel, uns die dunkeln, aber stark er- greifenden Wahrnehmungen dieser Art zu vergegenwärtigen. Allerdings darf er sie nur ungleich untergeordneter, als die Vergegenwärtigung von Tönen, ungleich mehr nur als Beigabe des Sichtbaren in uns hervorrufen, es bleibt daher bei dem Satze §. 834 Anm., daß die Poesie eigentlich kein neues Erscheinungsgebiet erobert, daß er sie aber nicht zu scheuen hat, daß sie im Gegentheil bedeutende ästhetische Hebel für ihn werden können, ist schon in der Anm. zu §. 71 berührt; er wird sie wie eine tiefe Symbolik mit menschlichen Stimmungen in geheimnißvolle Verbindung setzen, Auf- regungen der bedeutendsten Art aus ihnen entspringen lassen.
§. 839.
Auf der andern Seite hat die Dichtkunst mit der Musik durch ihr1. Vehikel, die Sprache, überhaupt die Form der reinen Bewegung, des Geistes- lebens, die Zeitform gemein. Sie wendet sich nun mit dieser Form zunächst,2. wie jene, an das Gefühl, indem sie nicht nur musikalische Kunstwerke für das innerlich gesetzte Gehör irgendwie nachzubilden vermag, sondern, was ungleich wichtiger ist, indem sie mit der Tonkunst den Inhalt theilt und mit ihrem eigenen Mittel, in gewisser Beziehung sogar umfangreicher, Stimmungen darstellt. Sie hat aber überhaupt das Gebiet der bildenden Kunst, das Sichtbare, mit dem der Musik, der innern Welt, so zu vereinigen und die unmittelbare Herkunft von der letztern so zu bethätigen, daß alle ihre Gebilde durchaus empfunden sind, daß sie dadurch lebendiges Gefühl der Zustände mittheilt. Endlich gibt sie gemäß dieser nahen Verwandtschaft und um nicht alle äußere3. Sinnenwirkung zu opfern, ihrem Vehikel, der Sprache, eine der Tonkunst verwandte, ursprünglich für musikalischen Vortrag wirklich bestimmte, rhyth- mische Form.
1. Zunächst ist vom Unterschiede zwischen dem musikalischen und dem zum Wort articulirten Ton abzusehen und bestimmt hervorzuheben, daß die Poesie mit der Musik die Form des Nacheinander, die Zeitform, also die des psychischen Lebens theilt. Der Boden des Geistes ist erreicht und wird nicht wieder verlassen, sondern in die Tiefe bearbeitet. Es ist aber hier, wo es eben auf die Vereinigung der Wirkungen des Nacheinander mit denen des Nebeneinander ankommt, diese Bestimmung genauer anzusehen. Der Geist ist keineswegs blos eine Bewegung im Nacheinander, sondern er ist zugleich die innerlich gewordene Raumwelt, innerliches Anschauen des Neben- einander, also des Gleichzeitigen. Es ist falsch, wenn man sagt, der Geist
Vischer's Aesthetik. 4. Band. 76
Eindrücke gleichen den toniſchen darin, daß die Sprache eigentlich keine Worte für ſie hat, allein der Dichter kann das Object nennen und darauf geſtützt genügen die unzulänglichen Sprachmittel, uns die dunkeln, aber ſtark er- greifenden Wahrnehmungen dieſer Art zu vergegenwärtigen. Allerdings darf er ſie nur ungleich untergeordneter, als die Vergegenwärtigung von Tönen, ungleich mehr nur als Beigabe des Sichtbaren in uns hervorrufen, es bleibt daher bei dem Satze §. 834 Anm., daß die Poeſie eigentlich kein neues Erſcheinungsgebiet erobert, daß er ſie aber nicht zu ſcheuen hat, daß ſie im Gegentheil bedeutende äſthetiſche Hebel für ihn werden können, iſt ſchon in der Anm. zu §. 71 berührt; er wird ſie wie eine tiefe Symbolik mit menſchlichen Stimmungen in geheimnißvolle Verbindung ſetzen, Auf- regungen der bedeutendſten Art aus ihnen entſpringen laſſen.
§. 839.
Auf der andern Seite hat die Dichtkunſt mit der Muſik durch ihr1. Vehikel, die Sprache, überhaupt die Form der reinen Bewegung, des Geiſtes- lebens, die Zeitform gemein. Sie wendet ſich nun mit dieſer Form zunächſt,2. wie jene, an das Gefühl, indem ſie nicht nur muſikaliſche Kunſtwerke für das innerlich geſetzte Gehör irgendwie nachzubilden vermag, ſondern, was ungleich wichtiger iſt, indem ſie mit der Tonkunſt den Inhalt theilt und mit ihrem eigenen Mittel, in gewiſſer Beziehung ſogar umfangreicher, Stimmungen darſtellt. Sie hat aber überhaupt das Gebiet der bildenden Kunſt, das Sichtbare, mit dem der Muſik, der innern Welt, ſo zu vereinigen und die unmittelbare Herkunft von der letztern ſo zu bethätigen, daß alle ihre Gebilde durchaus empfunden ſind, daß ſie dadurch lebendiges Gefühl der Zuſtände mittheilt. Endlich gibt ſie gemäß dieſer nahen Verwandtſchaft und um nicht alle äußere3. Sinnenwirkung zu opfern, ihrem Vehikel, der Sprache, eine der Tonkunſt verwandte, urſprünglich für muſikaliſchen Vortrag wirklich beſtimmte, rhyth- miſche Form.
1. Zunächſt iſt vom Unterſchiede zwiſchen dem muſikaliſchen und dem zum Wort articulirten Ton abzuſehen und beſtimmt hervorzuheben, daß die Poeſie mit der Muſik die Form des Nacheinander, die Zeitform, alſo die des pſychiſchen Lebens theilt. Der Boden des Geiſtes iſt erreicht und wird nicht wieder verlaſſen, ſondern in die Tiefe bearbeitet. Es iſt aber hier, wo es eben auf die Vereinigung der Wirkungen des Nacheinander mit denen des Nebeneinander ankommt, dieſe Beſtimmung genauer anzuſehen. Der Geiſt iſt keineswegs blos eine Bewegung im Nacheinander, ſondern er iſt zugleich die innerlich gewordene Raumwelt, innerliches Anſchauen des Neben- einander, alſo des Gleichzeitigen. Es iſt falſch, wenn man ſagt, der Geiſt
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 76
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0039"n="1175"/>
Eindrücke gleichen den toniſchen darin, daß die Sprache eigentlich keine Worte<lb/>
für ſie hat, allein der Dichter kann das Object nennen und darauf geſtützt<lb/>
genügen die unzulänglichen Sprachmittel, uns die dunkeln, aber ſtark er-<lb/>
greifenden Wahrnehmungen dieſer Art zu vergegenwärtigen. Allerdings<lb/>
darf er ſie nur ungleich untergeordneter, als die Vergegenwärtigung von<lb/>
Tönen, ungleich mehr nur als Beigabe des Sichtbaren in uns hervorrufen,<lb/>
es bleibt daher bei dem Satze §. 834 Anm., daß die Poeſie eigentlich kein<lb/>
neues Erſcheinungsgebiet erobert, daß er ſie aber nicht zu ſcheuen hat, daß<lb/>ſie im Gegentheil bedeutende äſthetiſche Hebel für ihn werden können, iſt<lb/>ſchon in der Anm. zu §. 71 berührt; er wird ſie wie eine tiefe Symbolik<lb/>
mit menſchlichen Stimmungen in geheimnißvolle Verbindung ſetzen, Auf-<lb/>
regungen der bedeutendſten Art aus ihnen entſpringen laſſen.</hi></p></div><lb/><divn="4"><head>§. 839.</head><lb/><p><hirendition="#fr">Auf der andern Seite hat die Dichtkunſt mit der <hirendition="#g">Muſik</hi> durch ihr<noteplace="right">1.</note><lb/>
Vehikel, die Sprache, überhaupt die Form der reinen Bewegung, des Geiſtes-<lb/>
lebens, die <hirendition="#g">Zeitform</hi> gemein. Sie wendet ſich nun mit dieſer Form zunächſt,<noteplace="right">2.</note><lb/>
wie jene, an das <hirendition="#g">Gefühl</hi>, indem ſie nicht nur muſikaliſche Kunſtwerke für<lb/>
das innerlich geſetzte Gehör irgendwie nachzubilden vermag, ſondern, was<lb/>
ungleich wichtiger iſt, indem ſie mit der Tonkunſt den Inhalt theilt und mit<lb/>
ihrem eigenen Mittel, in gewiſſer Beziehung ſogar umfangreicher, Stimmungen<lb/>
darſtellt. Sie hat aber überhaupt das Gebiet der bildenden Kunſt, das Sichtbare,<lb/>
mit dem der Muſik, der innern Welt, ſo zu vereinigen und die unmittelbare<lb/>
Herkunft von der letztern ſo zu bethätigen, daß alle ihre Gebilde durchaus<lb/><hirendition="#g">empfunden</hi>ſind, daß ſie dadurch lebendiges Gefühl der Zuſtände mittheilt.<lb/>
Endlich gibt ſie gemäß dieſer nahen Verwandtſchaft und um nicht alle äußere<noteplace="right">3.</note><lb/>
Sinnenwirkung zu opfern, ihrem Vehikel, der Sprache, eine der Tonkunſt<lb/>
verwandte, urſprünglich für muſikaliſchen Vortrag wirklich beſtimmte, <hirendition="#g">rhyth-<lb/>
miſche Form</hi>.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">1. Zunächſt iſt vom Unterſchiede zwiſchen dem muſikaliſchen und dem<lb/>
zum Wort articulirten Ton abzuſehen und beſtimmt hervorzuheben, daß die<lb/>
Poeſie mit der Muſik die Form des Nacheinander, die Zeitform, alſo die<lb/>
des pſychiſchen Lebens theilt. Der Boden des Geiſtes iſt erreicht und wird<lb/>
nicht wieder verlaſſen, ſondern in die Tiefe bearbeitet. Es iſt aber hier, wo<lb/>
es eben auf die Vereinigung der Wirkungen des Nacheinander mit denen<lb/>
des Nebeneinander ankommt, dieſe Beſtimmung genauer anzuſehen. Der<lb/>
Geiſt iſt keineswegs blos eine Bewegung im Nacheinander, ſondern er iſt<lb/>
zugleich die innerlich gewordene Raumwelt, innerliches Anſchauen des Neben-<lb/>
einander, alſo des Gleichzeitigen. Es iſt falſch, wenn man ſagt, der Geiſt</hi><lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#g">Viſcher’s</hi> Aeſthetik. 4. Band. 76</fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[1175/0039]
Eindrücke gleichen den toniſchen darin, daß die Sprache eigentlich keine Worte
für ſie hat, allein der Dichter kann das Object nennen und darauf geſtützt
genügen die unzulänglichen Sprachmittel, uns die dunkeln, aber ſtark er-
greifenden Wahrnehmungen dieſer Art zu vergegenwärtigen. Allerdings
darf er ſie nur ungleich untergeordneter, als die Vergegenwärtigung von
Tönen, ungleich mehr nur als Beigabe des Sichtbaren in uns hervorrufen,
es bleibt daher bei dem Satze §. 834 Anm., daß die Poeſie eigentlich kein
neues Erſcheinungsgebiet erobert, daß er ſie aber nicht zu ſcheuen hat, daß
ſie im Gegentheil bedeutende äſthetiſche Hebel für ihn werden können, iſt
ſchon in der Anm. zu §. 71 berührt; er wird ſie wie eine tiefe Symbolik
mit menſchlichen Stimmungen in geheimnißvolle Verbindung ſetzen, Auf-
regungen der bedeutendſten Art aus ihnen entſpringen laſſen.
§. 839.
Auf der andern Seite hat die Dichtkunſt mit der Muſik durch ihr
Vehikel, die Sprache, überhaupt die Form der reinen Bewegung, des Geiſtes-
lebens, die Zeitform gemein. Sie wendet ſich nun mit dieſer Form zunächſt,
wie jene, an das Gefühl, indem ſie nicht nur muſikaliſche Kunſtwerke für
das innerlich geſetzte Gehör irgendwie nachzubilden vermag, ſondern, was
ungleich wichtiger iſt, indem ſie mit der Tonkunſt den Inhalt theilt und mit
ihrem eigenen Mittel, in gewiſſer Beziehung ſogar umfangreicher, Stimmungen
darſtellt. Sie hat aber überhaupt das Gebiet der bildenden Kunſt, das Sichtbare,
mit dem der Muſik, der innern Welt, ſo zu vereinigen und die unmittelbare
Herkunft von der letztern ſo zu bethätigen, daß alle ihre Gebilde durchaus
empfunden ſind, daß ſie dadurch lebendiges Gefühl der Zuſtände mittheilt.
Endlich gibt ſie gemäß dieſer nahen Verwandtſchaft und um nicht alle äußere
Sinnenwirkung zu opfern, ihrem Vehikel, der Sprache, eine der Tonkunſt
verwandte, urſprünglich für muſikaliſchen Vortrag wirklich beſtimmte, rhyth-
miſche Form.
1. Zunächſt iſt vom Unterſchiede zwiſchen dem muſikaliſchen und dem
zum Wort articulirten Ton abzuſehen und beſtimmt hervorzuheben, daß die
Poeſie mit der Muſik die Form des Nacheinander, die Zeitform, alſo die
des pſychiſchen Lebens theilt. Der Boden des Geiſtes iſt erreicht und wird
nicht wieder verlaſſen, ſondern in die Tiefe bearbeitet. Es iſt aber hier, wo
es eben auf die Vereinigung der Wirkungen des Nacheinander mit denen
des Nebeneinander ankommt, dieſe Beſtimmung genauer anzuſehen. Der
Geiſt iſt keineswegs blos eine Bewegung im Nacheinander, ſondern er iſt
zugleich die innerlich gewordene Raumwelt, innerliches Anſchauen des Neben-
einander, alſo des Gleichzeitigen. Es iſt falſch, wenn man ſagt, der Geiſt
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 76
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/39>, abgerufen am 22.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.