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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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betrifft, so bringt es der Charakter des Lyrischen mit sich, daß sie in der
logischen Eintheilung zerworfen wird. Am meisten wird dieß mit dem
Orientalischen der Fall sein, das in der Lyrik eine ganz andere Stelle ein-
nimmt, als in den Hauptgebieten der Kunst im Großen, wogegen die successive
Folge des Classischen und Neueren mit der logischen mehr, aber keineswegs
consequent, zusammenlaufen wird. -- Wir bemerken nur noch, daß Hegel's
Eintheilung einen Ansatz der unsrigen enthält, ihn aber nicht vollzieht, da
in ihr die dritte Form, die betrachtende Lyrik, als Unterabtheilung dessen
auftritt, was wir als mittlere Form setzen, nämlich des Liederartigen, da-
gegen die Ode, die wir ganz anders stellen werden, den mittleren Platz
einnimmt (s. Aesth. Th. 3, S. 458. 465).

§. 890.

In der Lyrik des Aufschwungs erscheint der Inhalt dem Subjecte1.
wesentlich als ein erhabener, so daß es ihn nicht in sich hereinzuziehen und ganz
in Gefühlsleben umzusetzen vermag; er bleibt außer ihm, also objectiv, und es
singt, in seinen Tiefen mächtig bewegt, zu ihm hinauf: das Hymnische.
Diese Form entspricht vorzüglich der classischen Poesie; ihr direct idealer, plasti-2.
scher Styl bildet hier das epische Element nebst dem gnomischen in der breitesten
Entwicklung aus, welche das Lyrische zuläßt. Dieß verändert sich auch in den
spezielleren Formen des Dithyrambs und der Ode nicht, in welchen der
subjective Prozeß zu der Trunkenheit der ersten Aneignung des übergewaltigen
Inhalts und dann zu der kunstvollen Bemeisterung dieses Zustands fortgeht.
Die orientalische Hymnik ist ungleich subjectiver und ebenso, obwohl in anderem3.
Tone, die romantische und die moderne.

1. Der Inhalt "erscheint als ein erhabener", d. h.: das Hymnische
gehört dem Bewußtsein an, das die Kräfte, welche die Welt bewegen,
ihrer Ausbreitung und Zerstreuung im einzelnen Wirklichen entnimmt und
als absolute Mächte, als Wesen für sich, als Hypostasen sich gegenüberstellt.
Es erhellt sogleich, daß die Form der lyrischen Poesie, welche sich darauf
gründet, vorzüglich dem Götter-glaubigen, dem mythischen Bewußtsein an-
gehört, aber keineswegs allein; vielmehr kann auch der Geist, der durch
die Aufklärung die Welt entgöttert hat, jenen großen, zusammenfassenden,
eine Idee von ihrer Verwirklichung im Einzelnen getrennt für sich hinstellen-
den Act vornehmen; ein solches modernes Gedicht wird uns eigentlich fac-
tisch zeigen, wie der Götterglaube entstanden ist, mag es nun zur eigent-
lichen Personification fortgehen oder nicht. Sei es die Freundschaft, die
Freude, jede große sittliche Empfindung, sei es eine Naturkraft, die als
eine selbständige Macht angeschaut wird, ohne daß eine eigenthümliche

betrifft, ſo bringt es der Charakter des Lyriſchen mit ſich, daß ſie in der
logiſchen Eintheilung zerworfen wird. Am meiſten wird dieß mit dem
Orientaliſchen der Fall ſein, das in der Lyrik eine ganz andere Stelle ein-
nimmt, als in den Hauptgebieten der Kunſt im Großen, wogegen die ſucceſſive
Folge des Claſſiſchen und Neueren mit der logiſchen mehr, aber keineswegs
conſequent, zuſammenlaufen wird. — Wir bemerken nur noch, daß Hegel’s
Eintheilung einen Anſatz der unſrigen enthält, ihn aber nicht vollzieht, da
in ihr die dritte Form, die betrachtende Lyrik, als Unterabtheilung deſſen
auftritt, was wir als mittlere Form ſetzen, nämlich des Liederartigen, da-
gegen die Ode, die wir ganz anders ſtellen werden, den mittleren Platz
einnimmt (ſ. Aeſth. Th. 3, S. 458. 465).

§. 890.

In der Lyrik des Aufſchwungs erſcheint der Inhalt dem Subjecte1.
weſentlich als ein erhabener, ſo daß es ihn nicht in ſich hereinzuziehen und ganz
in Gefühlsleben umzuſetzen vermag; er bleibt außer ihm, alſo objectiv, und es
ſingt, in ſeinen Tiefen mächtig bewegt, zu ihm hinauf: das Hymniſche.
Dieſe Form entſpricht vorzüglich der claſſiſchen Poeſie; ihr direct idealer, plaſti-2.
ſcher Styl bildet hier das epiſche Element nebſt dem gnomiſchen in der breiteſten
Entwicklung aus, welche das Lyriſche zuläßt. Dieß verändert ſich auch in den
ſpezielleren Formen des Dithyrambs und der Ode nicht, in welchen der
ſubjective Prozeß zu der Trunkenheit der erſten Aneignung des übergewaltigen
Inhalts und dann zu der kunſtvollen Bemeiſterung dieſes Zuſtands fortgeht.
Die orientaliſche Hymnik iſt ungleich ſubjectiver und ebenſo, obwohl in anderem3.
Tone, die romantiſche und die moderne.

1. Der Inhalt „erſcheint als ein erhabener“, d. h.: das Hymniſche
gehört dem Bewußtſein an, das die Kräfte, welche die Welt bewegen,
ihrer Ausbreitung und Zerſtreuung im einzelnen Wirklichen entnimmt und
als abſolute Mächte, als Weſen für ſich, als Hypoſtaſen ſich gegenüberſtellt.
Es erhellt ſogleich, daß die Form der lyriſchen Poeſie, welche ſich darauf
gründet, vorzüglich dem Götter-glaubigen, dem mythiſchen Bewußtſein an-
gehört, aber keineswegs allein; vielmehr kann auch der Geiſt, der durch
die Aufklärung die Welt entgöttert hat, jenen großen, zuſammenfaſſenden,
eine Idee von ihrer Verwirklichung im Einzelnen getrennt für ſich hinſtellen-
den Act vornehmen; ein ſolches modernes Gedicht wird uns eigentlich fac-
tiſch zeigen, wie der Götterglaube entſtanden iſt, mag es nun zur eigent-
lichen Perſonification fortgehen oder nicht. Sei es die Freundſchaft, die
Freude, jede große ſittliche Empfindung, ſei es eine Naturkraft, die als
eine ſelbſtändige Macht angeſchaut wird, ohne daß eine eigenthümliche

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[1345/0209] betrifft, ſo bringt es der Charakter des Lyriſchen mit ſich, daß ſie in der logiſchen Eintheilung zerworfen wird. Am meiſten wird dieß mit dem Orientaliſchen der Fall ſein, das in der Lyrik eine ganz andere Stelle ein- nimmt, als in den Hauptgebieten der Kunſt im Großen, wogegen die ſucceſſive Folge des Claſſiſchen und Neueren mit der logiſchen mehr, aber keineswegs conſequent, zuſammenlaufen wird. — Wir bemerken nur noch, daß Hegel’s Eintheilung einen Anſatz der unſrigen enthält, ihn aber nicht vollzieht, da in ihr die dritte Form, die betrachtende Lyrik, als Unterabtheilung deſſen auftritt, was wir als mittlere Form ſetzen, nämlich des Liederartigen, da- gegen die Ode, die wir ganz anders ſtellen werden, den mittleren Platz einnimmt (ſ. Aeſth. Th. 3, S. 458. 465). §. 890. In der Lyrik des Aufſchwungs erſcheint der Inhalt dem Subjecte weſentlich als ein erhabener, ſo daß es ihn nicht in ſich hereinzuziehen und ganz in Gefühlsleben umzuſetzen vermag; er bleibt außer ihm, alſo objectiv, und es ſingt, in ſeinen Tiefen mächtig bewegt, zu ihm hinauf: das Hymniſche. Dieſe Form entſpricht vorzüglich der claſſiſchen Poeſie; ihr direct idealer, plaſti- ſcher Styl bildet hier das epiſche Element nebſt dem gnomiſchen in der breiteſten Entwicklung aus, welche das Lyriſche zuläßt. Dieß verändert ſich auch in den ſpezielleren Formen des Dithyrambs und der Ode nicht, in welchen der ſubjective Prozeß zu der Trunkenheit der erſten Aneignung des übergewaltigen Inhalts und dann zu der kunſtvollen Bemeiſterung dieſes Zuſtands fortgeht. Die orientaliſche Hymnik iſt ungleich ſubjectiver und ebenſo, obwohl in anderem Tone, die romantiſche und die moderne. 1. Der Inhalt „erſcheint als ein erhabener“, d. h.: das Hymniſche gehört dem Bewußtſein an, das die Kräfte, welche die Welt bewegen, ihrer Ausbreitung und Zerſtreuung im einzelnen Wirklichen entnimmt und als abſolute Mächte, als Weſen für ſich, als Hypoſtaſen ſich gegenüberſtellt. Es erhellt ſogleich, daß die Form der lyriſchen Poeſie, welche ſich darauf gründet, vorzüglich dem Götter-glaubigen, dem mythiſchen Bewußtſein an- gehört, aber keineswegs allein; vielmehr kann auch der Geiſt, der durch die Aufklärung die Welt entgöttert hat, jenen großen, zuſammenfaſſenden, eine Idee von ihrer Verwirklichung im Einzelnen getrennt für ſich hinſtellen- den Act vornehmen; ein ſolches modernes Gedicht wird uns eigentlich fac- tiſch zeigen, wie der Götterglaube entſtanden iſt, mag es nun zur eigent- lichen Perſonification fortgehen oder nicht. Sei es die Freundſchaft, die Freude, jede große ſittliche Empfindung, ſei es eine Naturkraft, die als eine ſelbſtändige Macht angeſchaut wird, ohne daß eine eigenthümliche

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1345. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/209>, abgerufen am 21.12.2024.