Es ist schon in §. 862 gesagt, daß die lyrische Poesie auf die Gegenwart, wie die epische auf die Vergangenheit gestellt ist. Es ist dieß nur ein anderer Ausdruck für den Satz, daß das Bestimmende dieser Dicht-Art die lebendige, alles Object in sich verarbeitende Subjectivität ist. Das Lyrische ist ganz auf diesen Moment concentrirt: jetzt, eben jetzt empfindet ein leben- diger Mensch die Welt so und nicht anders. Allein der Moment flieht im Werden und weicht dem folgenden. So ist die Gegenwart nur der stets relative Punct, von welchem aus der Lyriker die Vergangenheit und Zukunft durchmißt. Von ganz besonderer Stärke ist die Richtung der Vergangenheit. Wo das Gefühl selbständig waltet, ist die Wehmuth des Rückblicks bestim- mender Grundzug, ein Flor, der über Allem, auch dem Heitern liegt; denn als ein dunkles Schwingungsleben ist das Gefühl wesentlich ein Vernehmen der Zeit, eigentlich die Zeit selbst als subjectives Vernehmen des ewigen Wechsels; dieser Ton, den wir schon im Epischen fanden, dieser Zustand, als säße man am Strome der allgemeinen Vergänglichkeit und hörte ihn rauschen, wird im Lyrischen herrschend und wesentlicher Grundzug. Die Gegenwart weist aber durch Hoffnung oder Furcht nothwendig auch auf die Zukunft und die Empfindung schwillt in zarterer oder gewaltsamerer Weise nach ihr hin, das Selbst stellt sich in sie hinaus und schaut dort sein Bild. Den Zug der Weh- muth hebt auch dieß nicht auf, es zieht sich vielmehr etwas hindurch, ein Klang, der zu sagen scheint, daß auch dieß Zukünftige einst vergangen sein wird. Wie diesen verschiedenen Beziehungen nun die Elemente der Anschauung, der Betrachtung und der Willensbewegung als Ausdrucksformen dienen, bedarf keiner Auseinandersetzung.
§. 886.
Wie die lyrische Dichtung der Zeit nach wesentlich auf den Moment gewiesen ist, so dem Umfange nach, in welchem sie das Objective ergreift, auf die Vereinzelung: es ist wesentlich dieses Subject, das in dieser Situation von einem Punct aus der Totalität der Welt berührt wird; daher ist empirisches Erleben in der Form der Zufälligkeit vorausgesetzt, daher liegt auch das Pathologische (vergl. §. 393, 2.) besonders nahe und muß an dieser Stelle ausdrücklich wieder abgewiesen werden. Das freie und universale Gemüth, das in Kampf und Schmerz sich mit der Welt versöhnt hat, legt nun zwar in jedes Einzelne sein ganzes Inneres und das Gefühl des Universums, aber unentwickelt, und nur die Gesammtheit der lyrischen Aeußerungen gibt das Bild einer Persönlichkeit, eines Volks, der Völker, der Welt. Die bestimmte Art des Zusammenfühlens der Individualität und der Welt verleiht dem Ge- dichte seinen Duft.
Die lyrische Poesie hat über der Innigkeit, die ihr gewonnen ist, das Object zwar nicht so ganz verloren, wie die Musik; wir haben ihre epischen,
Es iſt ſchon in §. 862 geſagt, daß die lyriſche Poeſie auf die Gegenwart, wie die epiſche auf die Vergangenheit geſtellt iſt. Es iſt dieß nur ein anderer Ausdruck für den Satz, daß das Beſtimmende dieſer Dicht-Art die lebendige, alles Object in ſich verarbeitende Subjectivität iſt. Das Lyriſche iſt ganz auf dieſen Moment concentrirt: jetzt, eben jetzt empfindet ein leben- diger Menſch die Welt ſo und nicht anders. Allein der Moment flieht im Werden und weicht dem folgenden. So iſt die Gegenwart nur der ſtets relative Punct, von welchem aus der Lyriker die Vergangenheit und Zukunft durchmißt. Von ganz beſonderer Stärke iſt die Richtung der Vergangenheit. Wo das Gefühl ſelbſtändig waltet, iſt die Wehmuth des Rückblicks beſtim- mender Grundzug, ein Flor, der über Allem, auch dem Heitern liegt; denn als ein dunkles Schwingungsleben iſt das Gefühl weſentlich ein Vernehmen der Zeit, eigentlich die Zeit ſelbſt als ſubjectives Vernehmen des ewigen Wechſels; dieſer Ton, den wir ſchon im Epiſchen fanden, dieſer Zuſtand, als ſäße man am Strome der allgemeinen Vergänglichkeit und hörte ihn rauſchen, wird im Lyriſchen herrſchend und weſentlicher Grundzug. Die Gegenwart weist aber durch Hoffnung oder Furcht nothwendig auch auf die Zukunft und die Empfindung ſchwillt in zarterer oder gewaltſamerer Weiſe nach ihr hin, das Selbſt ſtellt ſich in ſie hinaus und ſchaut dort ſein Bild. Den Zug der Weh- muth hebt auch dieß nicht auf, es zieht ſich vielmehr etwas hindurch, ein Klang, der zu ſagen ſcheint, daß auch dieß Zukünftige einſt vergangen ſein wird. Wie dieſen verſchiedenen Beziehungen nun die Elemente der Anſchauung, der Betrachtung und der Willensbewegung als Ausdrucksformen dienen, bedarf keiner Auseinanderſetzung.
§. 886.
Wie die lyriſche Dichtung der Zeit nach weſentlich auf den Moment gewieſen iſt, ſo dem Umfange nach, in welchem ſie das Objective ergreift, auf die Vereinzelung: es iſt weſentlich dieſes Subject, das in dieſer Situation von einem Punct aus der Totalität der Welt berührt wird; daher iſt empiriſches Erleben in der Form der Zufälligkeit vorausgeſetzt, daher liegt auch das Pathologiſche (vergl. §. 393, 2.) beſonders nahe und muß an dieſer Stelle ausdrücklich wieder abgewieſen werden. Das freie und univerſale Gemüth, das in Kampf und Schmerz ſich mit der Welt verſöhnt hat, legt nun zwar in jedes Einzelne ſein ganzes Inneres und das Gefühl des Univerſums, aber unentwickelt, und nur die Geſammtheit der lyriſchen Aeußerungen gibt das Bild einer Perſönlichkeit, eines Volks, der Völker, der Welt. Die beſtimmte Art des Zuſammenfühlens der Individualität und der Welt verleiht dem Ge- dichte ſeinen Duft.
Die lyriſche Poeſie hat über der Innigkeit, die ihr gewonnen iſt, das Object zwar nicht ſo ganz verloren, wie die Muſik; wir haben ihre epiſchen,
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Es iſt ſchon in §. 862 geſagt, daß die lyriſche Poeſie auf die Gegenwart,
wie die epiſche auf die Vergangenheit geſtellt iſt. Es iſt dieß nur ein
anderer Ausdruck für den Satz, daß das Beſtimmende dieſer Dicht-Art die
lebendige, alles Object in ſich verarbeitende Subjectivität iſt. Das Lyriſche
iſt ganz auf dieſen Moment concentrirt: jetzt, eben jetzt empfindet ein leben-
diger Menſch die Welt ſo und nicht anders. Allein der Moment flieht im
Werden und weicht dem folgenden. So iſt die Gegenwart nur der ſtets
relative Punct, von welchem aus der Lyriker die Vergangenheit und Zukunft
durchmißt. Von ganz beſonderer Stärke iſt die Richtung der Vergangenheit.
Wo das Gefühl ſelbſtändig waltet, iſt die Wehmuth des Rückblicks beſtim-
mender Grundzug, ein Flor, der über Allem, auch dem Heitern liegt; denn
als ein dunkles Schwingungsleben iſt das Gefühl weſentlich ein Vernehmen
der Zeit, eigentlich die Zeit ſelbſt als ſubjectives Vernehmen des ewigen
Wechſels; dieſer Ton, den wir ſchon im Epiſchen fanden, dieſer Zuſtand, als
ſäße man am Strome der allgemeinen Vergänglichkeit und hörte ihn rauſchen,
wird im Lyriſchen herrſchend und weſentlicher Grundzug. Die Gegenwart weist
aber durch Hoffnung oder Furcht nothwendig auch auf die Zukunft und die
Empfindung ſchwillt in zarterer oder gewaltſamerer Weiſe nach ihr hin, das
Selbſt ſtellt ſich in ſie hinaus und ſchaut dort ſein Bild. Den Zug der Weh-
muth hebt auch dieß nicht auf, es zieht ſich vielmehr etwas hindurch, ein Klang,
der zu ſagen ſcheint, daß auch dieß Zukünftige einſt vergangen ſein wird.
Wie dieſen verſchiedenen Beziehungen nun die Elemente der Anſchauung, der
Betrachtung und der Willensbewegung als Ausdrucksformen dienen, bedarf
keiner Auseinanderſetzung.
§. 886.
Wie die lyriſche Dichtung der Zeit nach weſentlich auf den Moment
gewieſen iſt, ſo dem Umfange nach, in welchem ſie das Objective ergreift, auf
die Vereinzelung: es iſt weſentlich dieſes Subject, das in dieſer
Situation von einem Punct aus der Totalität der Welt berührt wird; daher
iſt empiriſches Erleben in der Form der Zufälligkeit vorausgeſetzt, daher liegt
auch das Pathologiſche (vergl. §. 393, 2.) beſonders nahe und muß an dieſer
Stelle ausdrücklich wieder abgewieſen werden. Das freie und univerſale Gemüth,
das in Kampf und Schmerz ſich mit der Welt verſöhnt hat, legt nun zwar
in jedes Einzelne ſein ganzes Inneres und das Gefühl des Univerſums, aber
unentwickelt, und nur die Geſammtheit der lyriſchen Aeußerungen gibt das
Bild einer Perſönlichkeit, eines Volks, der Völker, der Welt. Die beſtimmte
Art des Zuſammenfühlens der Individualität und der Welt verleiht dem Ge-
dichte ſeinen Duft.
Die lyriſche Poeſie hat über der Innigkeit, die ihr gewonnen iſt, das
Object zwar nicht ſo ganz verloren, wie die Muſik; wir haben ihre epiſchen,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/194>, abgerufen am 22.02.2025.
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