Diese Eigenschaften begründen einen gewissen generischen Charakter der epischen Dichtung und es scheint daher zunächst, daß sie aus der logischen Reihe der Formen der Poesie heraustrete.
In der epischen Poesie sind der Dichter und sein Object vereinigt und doch unterschieden; obwohl dem Geiste der Behandlung nach jener zurück- tritt, bleibt er doch dem einfachen Sachverhalte nach sichtbar gegenwärtig neben seinem Stoffe. Dieß Verhältniß wurde als eine naive Synthese be- zeichnet (§. 865). Nach dieser Seite haben wir ein einfaches Beisammensein der zwei Factoren, die in den andern Formen der Poesie sich gegenseitig absorbiren, denn in der lyrischen geht die Welt im Dichter, in der drama- tischen der Dichter in seiner Welt auf. Das Epische erscheint schon dadurch als eine elementarische Form, die zu den beiden andern nicht im Verhält- nisse der Coordination steht wie Einzelnes zu Einzelnem, sondern in dem des Allgemeinen zum Einzelnen, der ursprünglichen Einheit zu den Formen des Gegensatzes. Nimmt man nun den Geist der Behandlung dazu, so scheint auch nach dieser Seite der epische Dichter durch seine objective Ruhe und ideale Universalität, sowie durch seine Aufgabe, selbst Alles klar zu zeichnen und dem innern Auge zur Erscheinung zu bringen, weit mehr der Dichter über- haupt, ja der Künstler überhaupt zu sein, als es der lyrische und dramatische ist. Der Künstler überhaupt: denn Objectivität ist Grundbegriff aller Kunst gegen- über dem blos subjectiven Phantasiegebilde und man kann mit W. v. Hum- boldt (a. a. O. S. 46 u. 49) es so wenden: er gleiche am meisten dem bilden- den Künstler, die bildende Kunst stelle aber das Wesen der Kunst an sich am reinsten dar; man kann ihn, den Schöpfer der "Sculpturbilder der Vorstellung" (Hegel a. a. O. S. 322), näher dem Bildhauer vergleichen und nun daran erinnern, wie die Plastik mit einem gewissen Anspruch auf den Werth einer absoluten Kunst inmitten der bildenden Künste ruhig thront. Dieß Alles weist nun wieder ganz auf Göthe's normale Dichternatur und in jenen Stellen des Göthe-Schiller'schen Briefwechsels, worin überhaupt das Drama gegen das Epos zurückgesetzt wird, sagt denn dieser das in- teressante Wort über jenen: "ich glaube, daß blos die strenge gerade Linie, nach welcher der tragische Dichter fortschreiten muß, Ihrer Natur nicht zu- sagt, die sich überall mit freier Gemüthlichkeit äußern will; alsdann glaube ich auch, eine gewisse Berechnung auf den Zuschauer, von der sich der tragische Poet nicht dispensiren kann, der Hinblick auf einen Zweck genire Sie, und vielleicht sind Sie gerade nur deßwegen weniger zum Tragödien- dichter geeignet, weil Sie ganz zum Dichter in seiner generi- schen Bedeutung erschaffen sind" (a. a. O. Th. 3, S. 361). Die
§. 871.
Dieſe Eigenſchaften begründen einen gewiſſen generiſchen Charakter der epiſchen Dichtung und es ſcheint daher zunächſt, daß ſie aus der logiſchen Reihe der Formen der Poeſie heraustrete.
In der epiſchen Poeſie ſind der Dichter und ſein Object vereinigt und doch unterſchieden; obwohl dem Geiſte der Behandlung nach jener zurück- tritt, bleibt er doch dem einfachen Sachverhalte nach ſichtbar gegenwärtig neben ſeinem Stoffe. Dieß Verhältniß wurde als eine naive Syntheſe be- zeichnet (§. 865). Nach dieſer Seite haben wir ein einfaches Beiſammenſein der zwei Factoren, die in den andern Formen der Poeſie ſich gegenſeitig abſorbiren, denn in der lyriſchen geht die Welt im Dichter, in der drama- tiſchen der Dichter in ſeiner Welt auf. Das Epiſche erſcheint ſchon dadurch als eine elementariſche Form, die zu den beiden andern nicht im Verhält- niſſe der Coordination ſteht wie Einzelnes zu Einzelnem, ſondern in dem des Allgemeinen zum Einzelnen, der urſprünglichen Einheit zu den Formen des Gegenſatzes. Nimmt man nun den Geiſt der Behandlung dazu, ſo ſcheint auch nach dieſer Seite der epiſche Dichter durch ſeine objective Ruhe und ideale Univerſalität, ſowie durch ſeine Aufgabe, ſelbſt Alles klar zu zeichnen und dem innern Auge zur Erſcheinung zu bringen, weit mehr der Dichter über- haupt, ja der Künſtler überhaupt zu ſein, als es der lyriſche und dramatiſche iſt. Der Künſtler überhaupt: denn Objectivität iſt Grundbegriff aller Kunſt gegen- über dem blos ſubjectiven Phantaſiegebilde und man kann mit W. v. Hum- boldt (a. a. O. S. 46 u. 49) es ſo wenden: er gleiche am meiſten dem bilden- den Künſtler, die bildende Kunſt ſtelle aber das Weſen der Kunſt an ſich am reinſten dar; man kann ihn, den Schöpfer der „Sculpturbilder der Vorſtellung“ (Hegel a. a. O. S. 322), näher dem Bildhauer vergleichen und nun daran erinnern, wie die Plaſtik mit einem gewiſſen Anſpruch auf den Werth einer abſoluten Kunſt inmitten der bildenden Künſte ruhig thront. Dieß Alles weist nun wieder ganz auf Göthe’s normale Dichternatur und in jenen Stellen des Göthe-Schiller’ſchen Briefwechſels, worin überhaupt das Drama gegen das Epos zurückgeſetzt wird, ſagt denn dieſer das in- tereſſante Wort über jenen: „ich glaube, daß blos die ſtrenge gerade Linie, nach welcher der tragiſche Dichter fortſchreiten muß, Ihrer Natur nicht zu- ſagt, die ſich überall mit freier Gemüthlichkeit äußern will; alsdann glaube ich auch, eine gewiſſe Berechnung auf den Zuſchauer, von der ſich der tragiſche Poet nicht diſpenſiren kann, der Hinblick auf einen Zweck genire Sie, und vielleicht ſind Sie gerade nur deßwegen weniger zum Tragödien- dichter geeignet, weil Sie ganz zum Dichter in ſeiner generi- ſchen Bedeutung erſchaffen ſind“ (a. a. O. Th. 3, S. 361). Die
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Dieſe Eigenſchaften begründen einen gewiſſen generiſchen Charakter der
epiſchen Dichtung und es ſcheint daher zunächſt, daß ſie aus der logiſchen Reihe
der Formen der Poeſie heraustrete.
In der epiſchen Poeſie ſind der Dichter und ſein Object vereinigt und
doch unterſchieden; obwohl dem Geiſte der Behandlung nach jener zurück-
tritt, bleibt er doch dem einfachen Sachverhalte nach ſichtbar gegenwärtig
neben ſeinem Stoffe. Dieß Verhältniß wurde als eine naive Syntheſe be-
zeichnet (§. 865). Nach dieſer Seite haben wir ein einfaches Beiſammenſein
der zwei Factoren, die in den andern Formen der Poeſie ſich gegenſeitig
abſorbiren, denn in der lyriſchen geht die Welt im Dichter, in der drama-
tiſchen der Dichter in ſeiner Welt auf. Das Epiſche erſcheint ſchon dadurch
als eine elementariſche Form, die zu den beiden andern nicht im Verhält-
niſſe der Coordination ſteht wie Einzelnes zu Einzelnem, ſondern in dem
des Allgemeinen zum Einzelnen, der urſprünglichen Einheit zu den Formen
des Gegenſatzes. Nimmt man nun den Geiſt der Behandlung dazu, ſo
ſcheint auch nach dieſer Seite der epiſche Dichter durch ſeine objective Ruhe und
ideale Univerſalität, ſowie durch ſeine Aufgabe, ſelbſt Alles klar zu zeichnen
und dem innern Auge zur Erſcheinung zu bringen, weit mehr der Dichter über-
haupt, ja der Künſtler überhaupt zu ſein, als es der lyriſche und dramatiſche iſt.
Der Künſtler überhaupt: denn Objectivität iſt Grundbegriff aller Kunſt gegen-
über dem blos ſubjectiven Phantaſiegebilde und man kann mit W. v. Hum-
boldt (a. a. O. S. 46 u. 49) es ſo wenden: er gleiche am meiſten dem bilden-
den Künſtler, die bildende Kunſt ſtelle aber das Weſen der Kunſt an ſich am
reinſten dar; man kann ihn, den Schöpfer der „Sculpturbilder der
Vorſtellung“ (Hegel a. a. O. S. 322), näher dem Bildhauer vergleichen
und nun daran erinnern, wie die Plaſtik mit einem gewiſſen Anſpruch auf
den Werth einer abſoluten Kunſt inmitten der bildenden Künſte ruhig thront.
Dieß Alles weist nun wieder ganz auf Göthe’s normale Dichternatur und
in jenen Stellen des Göthe-Schiller’ſchen Briefwechſels, worin überhaupt
das Drama gegen das Epos zurückgeſetzt wird, ſagt denn dieſer das in-
tereſſante Wort über jenen: „ich glaube, daß blos die ſtrenge gerade Linie,
nach welcher der tragiſche Dichter fortſchreiten muß, Ihrer Natur nicht zu-
ſagt, die ſich überall mit freier Gemüthlichkeit äußern will; alsdann glaube
ich auch, eine gewiſſe Berechnung auf den Zuſchauer, von der ſich der
tragiſche Poet nicht diſpenſiren kann, der Hinblick auf einen Zweck genire
Sie, und vielleicht ſind Sie gerade nur deßwegen weniger zum Tragödien-
dichter geeignet, weil Sie ganz zum Dichter in ſeiner generi-
ſchen Bedeutung erſchaffen ſind“ (a. a. O. Th. 3, S. 361). Die
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/148>, abgerufen am 03.12.2024.
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