hange der Geist des Verfahrens, der von der allgemeinen Kunstform des Verfahrens wohl zu unterscheiden ist. Gerade weil er ein vergangener ist, kann der Stoff so behandelt werden, als habe er sich selbst gemacht und der Dichter thue nichts dazu, sondern stehe blos mit dem Stabe daneben und zeige die Bilder wie Sculpturwerke oder Gemälde, wo wir von Theil zu Theil, von Bild zu Bild fortrücken; darin also liegt die tiefe Ver- wandtschaft mit dem bildenden Künstler. Man hat dieß nicht immer unter- schieden, wie man es sollte; Hegel z. B. sagt einfach, der epische Dichter verschwinde in seinem Gegenstande, nur das Product, nicht aber er erscheine (Aesth. Th. 3, S. 337), Göthe: der Rhapsode sollte als ein höheres Wesen in seinem Gedichte nicht selbst erscheinen u. s. w. (Briefwechsel zwischen Göthe und Schiller B. 3, S. 378). Schon der antike Anruf an die Muse spricht aber aus, daß der begeisterte Dichter gegenwärtig ist, er kann auch sonst mit lyrischen Wendungen, mit Betrachtungen hervortreten, ohne daß darunter die Objectivität im Geiste des Verfahrens litte. Der §. sagt: der Dichter "weiß oder behauptet sein Product nicht als solches," um dem Unterschiede des ächten, ursprünglichen Epos und der späteren Formen, die näher am Romane liegen, namentlich aber des Romans selbst seinen Spielraum zu lassen, denn wir sind noch im Allgemeinen. Der Dichter kann nämlich noch immer vom epischen Geiste der Gegenständlichkeit durchdrungen sein, obwohl er mit seiner Zeit schon weit entfernt ist vom naiven Glauben an die geschichtliche Wahrheit seines Stoffs, von jenem Verhältnisse, worin er nur "Mund der Sage" ist und worin auch ein schöpferisches Umbilden des Gegenstands von keinem vollen Bewußtsein der eigenen freien Thätigkeit begleitet ist; da wird er aber mit einer gemessenen, milden Ironie dieses Bewußtsein verbergen und sich durchaus benehmen, als gebiete ihm der Stoff, und dieß wird insofern keine Unwahrheit sein, als der Auffassung nach allerdings die Nothwendigkeit des Weltlaufs ihm imponirt: das ästhe- tische Spiel besteht nur darin, daß er vermöge einer Vertauschung der Subjecte vorgibt, als gelte der Respect, den er der inneren Wahrheit zollt, der äußeren, thatsächlichen. Allerdings gedeiht aber jener Geist der Gegen- ständlichkeit besser, wo es dieser Uebertragung nicht bedarf, sondern der Dichter mit ungetheilter Naivetät in der Sache ist.
§. 866.
Hiedurch ist die ganze Weltauffassung des Dichters bedingt. Er hat allerdings in einer Handlung das Leben des Willens und seine Conflicte darzustellen, aber als vergangen ist dieselbe der Nothwendigkeit anheim- gefallen und stellt sich mit allen übrigen Bedingungen des Geschehens unter den Standpunct des Seins, der Substantialität. Die Hauptperson, der Held,
hange der Geiſt des Verfahrens, der von der allgemeinen Kunſtform des Verfahrens wohl zu unterſcheiden iſt. Gerade weil er ein vergangener iſt, kann der Stoff ſo behandelt werden, als habe er ſich ſelbſt gemacht und der Dichter thue nichts dazu, ſondern ſtehe blos mit dem Stabe daneben und zeige die Bilder wie Sculpturwerke oder Gemälde, wo wir von Theil zu Theil, von Bild zu Bild fortrücken; darin alſo liegt die tiefe Ver- wandtſchaft mit dem bildenden Künſtler. Man hat dieß nicht immer unter- ſchieden, wie man es ſollte; Hegel z. B. ſagt einfach, der epiſche Dichter verſchwinde in ſeinem Gegenſtande, nur das Product, nicht aber er erſcheine (Aeſth. Th. 3, S. 337), Göthe: der Rhapſode ſollte als ein höheres Weſen in ſeinem Gedichte nicht ſelbſt erſcheinen u. ſ. w. (Briefwechſel zwiſchen Göthe und Schiller B. 3, S. 378). Schon der antike Anruf an die Muſe ſpricht aber aus, daß der begeiſterte Dichter gegenwärtig iſt, er kann auch ſonſt mit lyriſchen Wendungen, mit Betrachtungen hervortreten, ohne daß darunter die Objectivität im Geiſte des Verfahrens litte. Der §. ſagt: der Dichter „weiß oder behauptet ſein Product nicht als ſolches,“ um dem Unterſchiede des ächten, urſprünglichen Epos und der ſpäteren Formen, die näher am Romane liegen, namentlich aber des Romans ſelbſt ſeinen Spielraum zu laſſen, denn wir ſind noch im Allgemeinen. Der Dichter kann nämlich noch immer vom epiſchen Geiſte der Gegenſtändlichkeit durchdrungen ſein, obwohl er mit ſeiner Zeit ſchon weit entfernt iſt vom naiven Glauben an die geſchichtliche Wahrheit ſeines Stoffs, von jenem Verhältniſſe, worin er nur „Mund der Sage“ iſt und worin auch ein ſchöpferiſches Umbilden des Gegenſtands von keinem vollen Bewußtſein der eigenen freien Thätigkeit begleitet iſt; da wird er aber mit einer gemeſſenen, milden Ironie dieſes Bewußtſein verbergen und ſich durchaus benehmen, als gebiete ihm der Stoff, und dieß wird inſofern keine Unwahrheit ſein, als der Auffaſſung nach allerdings die Nothwendigkeit des Weltlaufs ihm imponirt: das äſthe- tiſche Spiel beſteht nur darin, daß er vermöge einer Vertauſchung der Subjecte vorgibt, als gelte der Reſpect, den er der inneren Wahrheit zollt, der äußeren, thatſächlichen. Allerdings gedeiht aber jener Geiſt der Gegen- ſtändlichkeit beſſer, wo es dieſer Uebertragung nicht bedarf, ſondern der Dichter mit ungetheilter Naivetät in der Sache iſt.
§. 866.
Hiedurch iſt die ganze Weltauffaſſung des Dichters bedingt. Er hat allerdings in einer Handlung das Leben des Willens und ſeine Conflicte darzuſtellen, aber als vergangen iſt dieſelbe der Nothwendigkeit anheim- gefallen und ſtellt ſich mit allen übrigen Bedingungen des Geſchehens unter den Standpunct des Seins, der Subſtantialität. Die Hauptperſon, der Held,
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kann der Stoff ſo behandelt werden, als habe er ſich ſelbſt gemacht und
der Dichter thue nichts dazu, ſondern ſtehe blos mit dem Stabe daneben
und zeige die Bilder wie Sculpturwerke oder Gemälde, wo wir von Theil
zu Theil, von Bild zu Bild fortrücken; darin alſo liegt die tiefe Ver-
wandtſchaft mit dem bildenden Künſtler. Man hat dieß nicht immer unter-
ſchieden, wie man es ſollte; Hegel z. B. ſagt einfach, der epiſche Dichter
verſchwinde in ſeinem Gegenſtande, nur das Product, nicht aber er erſcheine
(Aeſth. Th. 3, S. 337), Göthe: der Rhapſode ſollte als ein höheres Weſen
in ſeinem Gedichte nicht ſelbſt erſcheinen u. ſ. w. (Briefwechſel zwiſchen Göthe
und Schiller B. 3, S. 378). Schon der antike Anruf an die Muſe ſpricht
aber aus, daß der begeiſterte Dichter gegenwärtig iſt, er kann auch ſonſt mit
lyriſchen Wendungen, mit Betrachtungen hervortreten, ohne daß darunter
die Objectivität im Geiſte des Verfahrens litte. Der §. ſagt: der Dichter
„weiß oder behauptet ſein Product nicht als ſolches,“ um dem Unterſchiede
des ächten, urſprünglichen Epos und der ſpäteren Formen, die näher am
Romane liegen, namentlich aber des Romans ſelbſt ſeinen Spielraum zu
laſſen, denn wir ſind noch im Allgemeinen. Der Dichter kann nämlich
noch immer vom epiſchen Geiſte der Gegenſtändlichkeit durchdrungen ſein,
obwohl er mit ſeiner Zeit ſchon weit entfernt iſt vom naiven Glauben an
die geſchichtliche Wahrheit ſeines Stoffs, von jenem Verhältniſſe, worin er
nur „Mund der Sage“ iſt und worin auch ein ſchöpferiſches Umbilden des
Gegenſtands von keinem vollen Bewußtſein der eigenen freien Thätigkeit
begleitet iſt; da wird er aber mit einer gemeſſenen, milden Ironie dieſes
Bewußtſein verbergen und ſich durchaus benehmen, als gebiete ihm der
Stoff, und dieß wird inſofern keine Unwahrheit ſein, als der Auffaſſung
nach allerdings die Nothwendigkeit des Weltlaufs ihm imponirt: das äſthe-
tiſche Spiel beſteht nur darin, daß er vermöge einer Vertauſchung der
Subjecte vorgibt, als gelte der Reſpect, den er der inneren Wahrheit zollt, der
äußeren, thatſächlichen. Allerdings gedeiht aber jener Geiſt der Gegen-
ſtändlichkeit beſſer, wo es dieſer Uebertragung nicht bedarf, ſondern der
Dichter mit ungetheilter Naivetät in der Sache iſt.
§. 866.
Hiedurch iſt die ganze Weltauffaſſung des Dichters bedingt. Er hat
allerdings in einer Handlung das Leben des Willens und ſeine Conflicte
darzuſtellen, aber als vergangen iſt dieſelbe der Nothwendigkeit anheim-
gefallen und ſtellt ſich mit allen übrigen Bedingungen des Geſchehens unter den
Standpunct des Seins, der Subſtantialität. Die Hauptperſon, der Held,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/130>, abgerufen am 21.11.2024.
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