müssen, wenn sie in ihren Schranken bleibt. -- Es fragt sich nun, ob nicht die ganze Betrachtung sich anders stelle, wenn von der begleitenden Musik die Rede ist, denn hier zeigt der Text den komischen Vorgang für Anschauung und Verstand auf und erhellt ihn dem tieferen Bewußtsein. Allein in Wahr- heit wird ja in diesem Verhältnisse die Natur der Musik nicht verändert; nimmt man den Text weg, so wird man auch im Komischen nie sagen können, daß die Musik gerade dieß Object ausdrücke, sondern es bleibt nur die komische Stimmung an sich übrig, die sie auch ohne Text ausdrücken kann. Wie das Gefühl überhaupt durch das begleitende Bewußtsein bereichert wird, so allerdings auch hier: unendlich komische Motive wären von der Musik nicht erfunden ohne Text, aber diese Bereicherung ist nur eine Bereicherung innerhalb der aufgezeigten Grenzen. Klar ist, daß die Musik in dieser Ver- bindung, da sie den höchsten Werth darauf legen muß, daß sie durch das Anschauliche unterstützt werde, namentlich Motive der burlesk komischen Stimmung gewinnt, denn die Burleske ist wesentlich das anschaulich Komische im engeren Sinne des Worts. Allein hier ist sie auch der Versuchung aus- gesetzt, in das Gemeine der ungemischten Lust zu verfallen, das wir in §. 751, 2. verworfen haben. Der wahren Natur der Musik entspricht die Tiefe des Humors in seiner wunderbaren Mischung von Lust und Unlust, seiner lächelnden Wehmuth. Und es fragt sich, ob nicht die selbständige Musik diese höchste Form des Komischen reiner zu entwickeln vermöge, als die begleitende.
§. 766.
Im System der Künste steht die Musik in einer Beziehung tiefer Ver-1. wandtschaft bei tiefem Unterschiede mit der Baukunst. Wie diese ist sie eine Kunst der reinen Verhältnisse, wesentlich messend, zählend; ebendaher fällt auch bei ihr Erfindung und Ausführung auseinander; in derselben Stellung wie die Architektur als vorbereitende Urform vor die bildende Kunst, tritt sie vor die Dichtkunst, in tieferer Bedeutung aber erscheint sie als die mittlere Halle zwischen der bildenden Kunst und der Poesie, worin der Geist von der Zerstreuung im Räumlichen zu einer Wiederherstellung desselben in neuem Sinne sich sammelt. Dem Zeitverhältniß nach ist sie zwar die früheste Kunst, zu ihrer wahren Gestalt2. aber kann sie nur im Boden einer reifen und späten Bildung gedeihen.
1. Die eigenthümliche Wahlverwandtschaft zwischen Baukunst und Musik haben wir schon in der Frage über die Anordnung der Künste angedeutet und die daraus entspringenden, obwohl für uns nicht entscheidenden Gründe für eine andere Anordnung des Ganzen der Künste berührt (§. 542, Anm.), wir haben bei der Baukunst selbst bereits auf die Musik hinübergewiesen, als wir zeigten, wie sie nur durch den Rhythmus der Verhältnisse wirke,
müſſen, wenn ſie in ihren Schranken bleibt. — Es fragt ſich nun, ob nicht die ganze Betrachtung ſich anders ſtelle, wenn von der begleitenden Muſik die Rede iſt, denn hier zeigt der Text den komiſchen Vorgang für Anſchauung und Verſtand auf und erhellt ihn dem tieferen Bewußtſein. Allein in Wahr- heit wird ja in dieſem Verhältniſſe die Natur der Muſik nicht verändert; nimmt man den Text weg, ſo wird man auch im Komiſchen nie ſagen können, daß die Muſik gerade dieß Object ausdrücke, ſondern es bleibt nur die komiſche Stimmung an ſich übrig, die ſie auch ohne Text ausdrücken kann. Wie das Gefühl überhaupt durch das begleitende Bewußtſein bereichert wird, ſo allerdings auch hier: unendlich komiſche Motive wären von der Muſik nicht erfunden ohne Text, aber dieſe Bereicherung iſt nur eine Bereicherung innerhalb der aufgezeigten Grenzen. Klar iſt, daß die Muſik in dieſer Ver- bindung, da ſie den höchſten Werth darauf legen muß, daß ſie durch das Anſchauliche unterſtützt werde, namentlich Motive der burlesk komiſchen Stimmung gewinnt, denn die Burleske iſt weſentlich das anſchaulich Komiſche im engeren Sinne des Worts. Allein hier iſt ſie auch der Verſuchung aus- geſetzt, in das Gemeine der ungemiſchten Luſt zu verfallen, das wir in §. 751, 2. verworfen haben. Der wahren Natur der Muſik entſpricht die Tiefe des Humors in ſeiner wunderbaren Miſchung von Luſt und Unluſt, ſeiner lächelnden Wehmuth. Und es fragt ſich, ob nicht die ſelbſtändige Muſik dieſe höchſte Form des Komiſchen reiner zu entwickeln vermöge, als die begleitende.
§. 766.
Im Syſtem der Künſte ſteht die Muſik in einer Beziehung tiefer Ver-1. wandtſchaft bei tiefem Unterſchiede mit der Baukunſt. Wie dieſe iſt ſie eine Kunſt der reinen Verhältniſſe, weſentlich meſſend, zählend; ebendaher fällt auch bei ihr Erfindung und Ausführung auseinander; in derſelben Stellung wie die Architektur als vorbereitende Urform vor die bildende Kunſt, tritt ſie vor die Dichtkunſt, in tieferer Bedeutung aber erſcheint ſie als die mittlere Halle zwiſchen der bildenden Kunſt und der Poeſie, worin der Geiſt von der Zerſtreuung im Räumlichen zu einer Wiederherſtellung deſſelben in neuem Sinne ſich ſammelt. Dem Zeitverhältniß nach iſt ſie zwar die früheſte Kunſt, zu ihrer wahren Geſtalt2. aber kann ſie nur im Boden einer reifen und ſpäten Bildung gedeihen.
1. Die eigenthümliche Wahlverwandtſchaft zwiſchen Baukunſt und Muſik haben wir ſchon in der Frage über die Anordnung der Künſte angedeutet und die daraus entſpringenden, obwohl für uns nicht entſcheidenden Gründe für eine andere Anordnung des Ganzen der Künſte berührt (§. 542, Anm.), wir haben bei der Baukunſt ſelbſt bereits auf die Muſik hinübergewieſen, als wir zeigten, wie ſie nur durch den Rhythmus der Verhältniſſe wirke,
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[835/0073]
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die ganze Betrachtung ſich anders ſtelle, wenn von der begleitenden Muſik
die Rede iſt, denn hier zeigt der Text den komiſchen Vorgang für Anſchauung
und Verſtand auf und erhellt ihn dem tieferen Bewußtſein. Allein in Wahr-
heit wird ja in dieſem Verhältniſſe die Natur der Muſik nicht verändert;
nimmt man den Text weg, ſo wird man auch im Komiſchen nie ſagen
können, daß die Muſik gerade dieß Object ausdrücke, ſondern es bleibt nur
die komiſche Stimmung an ſich übrig, die ſie auch ohne Text ausdrücken kann.
Wie das Gefühl überhaupt durch das begleitende Bewußtſein bereichert wird,
ſo allerdings auch hier: unendlich komiſche Motive wären von der Muſik
nicht erfunden ohne Text, aber dieſe Bereicherung iſt nur eine Bereicherung
innerhalb der aufgezeigten Grenzen. Klar iſt, daß die Muſik in dieſer Ver-
bindung, da ſie den höchſten Werth darauf legen muß, daß ſie durch das
Anſchauliche unterſtützt werde, namentlich Motive der burlesk komiſchen
Stimmung gewinnt, denn die Burleske iſt weſentlich das anſchaulich Komiſche
im engeren Sinne des Worts. Allein hier iſt ſie auch der Verſuchung aus-
geſetzt, in das Gemeine der ungemiſchten Luſt zu verfallen, das wir in
§. 751, 2. verworfen haben. Der wahren Natur der Muſik entſpricht die
Tiefe des Humors in ſeiner wunderbaren Miſchung von Luſt und Unluſt,
ſeiner lächelnden Wehmuth. Und es fragt ſich, ob nicht die ſelbſtändige
Muſik dieſe höchſte Form des Komiſchen reiner zu entwickeln vermöge, als
die begleitende.
§. 766.
Im Syſtem der Künſte ſteht die Muſik in einer Beziehung tiefer Ver-
wandtſchaft bei tiefem Unterſchiede mit der Baukunſt. Wie dieſe iſt ſie eine
Kunſt der reinen Verhältniſſe, weſentlich meſſend, zählend; ebendaher fällt auch
bei ihr Erfindung und Ausführung auseinander; in derſelben Stellung wie die
Architektur als vorbereitende Urform vor die bildende Kunſt, tritt ſie vor die
Dichtkunſt, in tieferer Bedeutung aber erſcheint ſie als die mittlere Halle zwiſchen
der bildenden Kunſt und der Poeſie, worin der Geiſt von der Zerſtreuung im
Räumlichen zu einer Wiederherſtellung deſſelben in neuem Sinne ſich ſammelt.
Dem Zeitverhältniß nach iſt ſie zwar die früheſte Kunſt, zu ihrer wahren Geſtalt
aber kann ſie nur im Boden einer reifen und ſpäten Bildung gedeihen.
1. Die eigenthümliche Wahlverwandtſchaft zwiſchen Baukunſt und Muſik
haben wir ſchon in der Frage über die Anordnung der Künſte angedeutet
und die daraus entſpringenden, obwohl für uns nicht entſcheidenden Gründe
für eine andere Anordnung des Ganzen der Künſte berührt (§. 542, Anm.),
wir haben bei der Baukunſt ſelbſt bereits auf die Muſik hinübergewieſen,
als wir zeigten, wie ſie nur durch den Rhythmus der Verhältniſſe wirke,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 835. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/73>, abgerufen am 21.12.2024.
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