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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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kann, daraus folgt nur, daß der Inhalt der Musik jene Geistesform ist, die
sich durch Worte nicht zu offenbaren vermag: "füße Liebe denkt in Tönen,
denn Gedanken steh'n zu fern." Selbst jene Theorieen von "bestimmten
Gefühlen" in der Musik sind nur in gewissem Sinne falsch, sofern ihnen
nämlich die Meinung zu Grunde liegt, es lasse sich das Bestimmte eines
Gefühls außerhalb der Musik durch Begriff und Wort fassen, ohne aus
dem Elemente des Gefühls herauszutreten, und man könne von einem so
definirten Gefühle sprechen wie vom Stoffe, vom Süjet des Malers und
Dichters; sie sind nicht falsch, sofern sie sagen wollen, daß jedes Musikwerk
eine spezifisch individuelle Stimmung zum Inhalt haben muß. -- Zu der
Tautologie gesellt sich übrigens in jener Schrift der unvermeidliche Wider-
spruch, daß hinterher doch "Gedanken und Gefühle, die theuersten und
wichtigsten Bewegungen des Menschengeists", als "Gehalt" der Tonkunst
eingeräumt werden müssen.

§. 750.

Das Gefühl durchdringt sich mit dem Lebensgehalte des Individuums und1.
legt sich mit dieser Fülle in die einzelne Stimmung. Da aber in allen indivi-
duellen Unterschieden die Grundbewegungen des menschlichen Wesens dieselben
sind, so ist der Charakter der Allgemeinheit und Nothwendigkeit durch diese
Individualität ebenso wenig, als durch die Subjectivität des Gefühls überhaupt
ausgeschlossen. Jede menschlich wahre individuelle Stimmung enthält das Gefühl2.
des Endlichen und Unendlichen in irgend einer Weise geeinigt und so die Be-
dingungen in sich, die Idee in begrenzter Erscheinung darzustellen. Die Idee
als Gefühl des Unendlichen begründet ein besonderes Verhältniß zur Religion.

1. Natürlich werden in dem einen Musikwerk mehr allgemein mensch-
liche Stimmungen in ihrer Einfachheit, in dem andern die tieferen Com-
plexionen des Gefühls, wie sie nur bedeutenden Individuen eigen sind,
zum Ausdruck kommen; das Letztere aber, als die höhere und wesentliche
Aufgabe der Tonkunst, ist hier in's Auge zu fassen, um das Leben des
Gefühls in seine tiefere Sättigung zu verfolgen. Es erhält nun seine
bestimmtere Anwendung, was zum vorh. §. über die Bereicherung und
Ernährung des Gefühls durch das bewußte Leben gesagt ist. In dem
unendlichen Kreislaufe des Seelenlebens wird der ganze Schatz eines vor-
hergegangenen Lebens, die ganze Summe der Erfahrungen, des Leidens
und Thuns der Persönlichkeit in das Gefühl umgesetzt und es ergänzt sich
an dieser Stelle, was über freie oder unfreie Bestimmtheit des Gefühls
gesagt ist: das Gefühl als Grundstimmung des Individuums ist das Er-
gebniß seines Lebens und also mittelbar das Werk seines Willens: schließ-
lich bin ich selbst der Schöpfer meines Gefühlslebens. Diese, so mit dem

Vischer's Aesthetik. 4. Band. 52

kann, daraus folgt nur, daß der Inhalt der Muſik jene Geiſtesform iſt, die
ſich durch Worte nicht zu offenbaren vermag: „füße Liebe denkt in Tönen,
denn Gedanken ſteh’n zu fern.“ Selbſt jene Theorieen von „beſtimmten
Gefühlen“ in der Muſik ſind nur in gewiſſem Sinne falſch, ſofern ihnen
nämlich die Meinung zu Grunde liegt, es laſſe ſich das Beſtimmte eines
Gefühls außerhalb der Muſik durch Begriff und Wort faſſen, ohne aus
dem Elemente des Gefühls herauszutreten, und man könne von einem ſo
definirten Gefühle ſprechen wie vom Stoffe, vom Süjet des Malers und
Dichters; ſie ſind nicht falſch, ſofern ſie ſagen wollen, daß jedes Muſikwerk
eine ſpezifiſch individuelle Stimmung zum Inhalt haben muß. — Zu der
Tautologie geſellt ſich übrigens in jener Schrift der unvermeidliche Wider-
ſpruch, daß hinterher doch „Gedanken und Gefühle, die theuerſten und
wichtigſten Bewegungen des Menſchengeiſts“, als „Gehalt“ der Tonkunſt
eingeräumt werden müſſen.

§. 750.

Das Gefühl durchdringt ſich mit dem Lebensgehalte des Individuums und1.
legt ſich mit dieſer Fülle in die einzelne Stimmung. Da aber in allen indivi-
duellen Unterſchieden die Grundbewegungen des menſchlichen Weſens dieſelben
ſind, ſo iſt der Charakter der Allgemeinheit und Nothwendigkeit durch dieſe
Individualität ebenſo wenig, als durch die Subjectivität des Gefühls überhaupt
ausgeſchloſſen. Jede menſchlich wahre individuelle Stimmung enthält das Gefühl2.
des Endlichen und Unendlichen in irgend einer Weiſe geeinigt und ſo die Be-
dingungen in ſich, die Idee in begrenzter Erſcheinung darzuſtellen. Die Idee
als Gefühl des Unendlichen begründet ein beſonderes Verhältniß zur Religion.

1. Natürlich werden in dem einen Muſikwerk mehr allgemein menſch-
liche Stimmungen in ihrer Einfachheit, in dem andern die tieferen Com-
plexionen des Gefühls, wie ſie nur bedeutenden Individuen eigen ſind,
zum Ausdruck kommen; das Letztere aber, als die höhere und weſentliche
Aufgabe der Tonkunſt, iſt hier in’s Auge zu faſſen, um das Leben des
Gefühls in ſeine tiefere Sättigung zu verfolgen. Es erhält nun ſeine
beſtimmtere Anwendung, was zum vorh. §. über die Bereicherung und
Ernährung des Gefühls durch das bewußte Leben geſagt iſt. In dem
unendlichen Kreislaufe des Seelenlebens wird der ganze Schatz eines vor-
hergegangenen Lebens, die ganze Summe der Erfahrungen, des Leidens
und Thuns der Perſönlichkeit in das Gefühl umgeſetzt und es ergänzt ſich
an dieſer Stelle, was über freie oder unfreie Beſtimmtheit des Gefühls
geſagt iſt: das Gefühl als Grundſtimmung des Individuums iſt das Er-
gebniß ſeines Lebens und alſo mittelbar das Werk ſeines Willens: ſchließ-
lich bin ich ſelbſt der Schöpfer meines Gefühlslebens. Dieſe, ſo mit dem

Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 52
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[791/0029] kann, daraus folgt nur, daß der Inhalt der Muſik jene Geiſtesform iſt, die ſich durch Worte nicht zu offenbaren vermag: „füße Liebe denkt in Tönen, denn Gedanken ſteh’n zu fern.“ Selbſt jene Theorieen von „beſtimmten Gefühlen“ in der Muſik ſind nur in gewiſſem Sinne falſch, ſofern ihnen nämlich die Meinung zu Grunde liegt, es laſſe ſich das Beſtimmte eines Gefühls außerhalb der Muſik durch Begriff und Wort faſſen, ohne aus dem Elemente des Gefühls herauszutreten, und man könne von einem ſo definirten Gefühle ſprechen wie vom Stoffe, vom Süjet des Malers und Dichters; ſie ſind nicht falſch, ſofern ſie ſagen wollen, daß jedes Muſikwerk eine ſpezifiſch individuelle Stimmung zum Inhalt haben muß. — Zu der Tautologie geſellt ſich übrigens in jener Schrift der unvermeidliche Wider- ſpruch, daß hinterher doch „Gedanken und Gefühle, die theuerſten und wichtigſten Bewegungen des Menſchengeiſts“, als „Gehalt“ der Tonkunſt eingeräumt werden müſſen. §. 750. Das Gefühl durchdringt ſich mit dem Lebensgehalte des Individuums und legt ſich mit dieſer Fülle in die einzelne Stimmung. Da aber in allen indivi- duellen Unterſchieden die Grundbewegungen des menſchlichen Weſens dieſelben ſind, ſo iſt der Charakter der Allgemeinheit und Nothwendigkeit durch dieſe Individualität ebenſo wenig, als durch die Subjectivität des Gefühls überhaupt ausgeſchloſſen. Jede menſchlich wahre individuelle Stimmung enthält das Gefühl des Endlichen und Unendlichen in irgend einer Weiſe geeinigt und ſo die Be- dingungen in ſich, die Idee in begrenzter Erſcheinung darzuſtellen. Die Idee als Gefühl des Unendlichen begründet ein beſonderes Verhältniß zur Religion. 1. Natürlich werden in dem einen Muſikwerk mehr allgemein menſch- liche Stimmungen in ihrer Einfachheit, in dem andern die tieferen Com- plexionen des Gefühls, wie ſie nur bedeutenden Individuen eigen ſind, zum Ausdruck kommen; das Letztere aber, als die höhere und weſentliche Aufgabe der Tonkunſt, iſt hier in’s Auge zu faſſen, um das Leben des Gefühls in ſeine tiefere Sättigung zu verfolgen. Es erhält nun ſeine beſtimmtere Anwendung, was zum vorh. §. über die Bereicherung und Ernährung des Gefühls durch das bewußte Leben geſagt iſt. In dem unendlichen Kreislaufe des Seelenlebens wird der ganze Schatz eines vor- hergegangenen Lebens, die ganze Summe der Erfahrungen, des Leidens und Thuns der Perſönlichkeit in das Gefühl umgeſetzt und es ergänzt ſich an dieſer Stelle, was über freie oder unfreie Beſtimmtheit des Gefühls geſagt iſt: das Gefühl als Grundſtimmung des Individuums iſt das Er- gebniß ſeines Lebens und alſo mittelbar das Werk ſeines Willens: ſchließ- lich bin ich ſelbſt der Schöpfer meines Gefühlslebens. Dieſe, ſo mit dem Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 52

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 791. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/29>, abgerufen am 21.11.2024.