zugleich genöthigt stets wieder von vorne anzufangen, ein Ganzes von Variationen zerfällt in selbständige Stücke, die einander verwandt, aber jedes wieder ein Ganzes für sich sind. In dieser Beziehung gehört die Variation selbst wieder der aggregatartigen Musikform an, sie hat zu wenig Continuität, Fluß und ungehemmten Fortgang. Wie das Rondo zur Variation fort- treibt, damit strengere und zugleich reicher entwickelte Gedankeneinheit erzielt werde, so treibt die Variation zu einer noch höheren Kunstform fort, welche Gedankeneinheit hat ohne Einförmigkeit, reiche Gedankenentwicklung ohne Zersplitterung in selbständige variirende Stücke. Diese Form entsteht da- durch, daß die cyclische Musik wieder zurückkehrt zur Grundform aller Musik, d. h. zu der in Perioden und (kleinere) Sätze sich gliedernden Zweitheiligkeit, die aber das Erweiterungsprinzip des Rondo und das Entwicklungs- oder Verarbeitungsprinzip der Variation in sich aufnimmt und auf diesem Wege große, die beiden Elemente der Einheit und der Mannigfaltigkeit völlig befriedigend vereinigende Tonsätze hervorbringt.
§. 790.
Die zweite Hauptart der auf dem Prinzip thematischer Ausführung be- ruhenden cyclischen Musik ist die Compositionsform, die man kurz als die Form der freien musikalischen Gedankenentwicklung bezeichnen kann. Ein in sich bereits mannigfaltig gegliederter Hauptgedanke führt un- mittelbar oder durch Zwischensätze zu einem zweiten, mit innerer Nothwendigkeit aus ihm hervorgehenden, in andrer Tonart auftretenden fort, mit dessen voll- ständiger Durchführung, sowie mit hinzukommenden Nebensätzen oder kürzern Wiederholungen, variirenden Entwicklungen des ersten Hauptgedankens, zunächst ein Abschluß eintritt. Aus dem so gebildeten ersten Theil entwickelt sich ein zweiter, welcher in der Regel den ersten durch modulatorisch, harmonisch und rhythmisch noch reichere und belebtere Bearbeitung von Gedanken desselben weiter führt und sodann allmälig wieder in den einfachern und ruhigern Gang des ersten Theils einlenkt, um mit ihm, wiewohl wiederum nicht ohne einzelne Erweiterungen, Veränderungen, Entwicklungen seiner Gedanken oder auch mit Fortführung derselben zu eigenen Schlußsätzen, in der Grundtonart zu schließen. So entsteht ein Satz, in welchem Einheit sich selbst zur Mannigfaltigkeit organisch erweitert und fortentwickelt, diese Mannigfaltigkeit aber ebenso naturgemäß zur Einheit wiederum zurückgeht und so neben allem Wechsel die vollständigste, fließendste, einheitliche Abrundung des ganzen Tonbilds erzielt wird.
Die Grundform der Musik, Zweitheiligkeit sich gliedernd in Perioden und (kleinere) Sätze, war in den bis jetzt betrachteten Formen nicht das beherrschende Prinzip der ganzen Anordnung des Tonstücks; als solches
zugleich genöthigt ſtets wieder von vorne anzufangen, ein Ganzes von Variationen zerfällt in ſelbſtändige Stücke, die einander verwandt, aber jedes wieder ein Ganzes für ſich ſind. In dieſer Beziehung gehört die Variation ſelbſt wieder der aggregatartigen Muſikform an, ſie hat zu wenig Continuität, Fluß und ungehemmten Fortgang. Wie das Rondo zur Variation fort- treibt, damit ſtrengere und zugleich reicher entwickelte Gedankeneinheit erzielt werde, ſo treibt die Variation zu einer noch höheren Kunſtform fort, welche Gedankeneinheit hat ohne Einförmigkeit, reiche Gedankenentwicklung ohne Zerſplitterung in ſelbſtändige variirende Stücke. Dieſe Form entſteht da- durch, daß die cycliſche Muſik wieder zurückkehrt zur Grundform aller Muſik, d. h. zu der in Perioden und (kleinere) Sätze ſich gliedernden Zweitheiligkeit, die aber das Erweiterungsprinzip des Rondo und das Entwicklungs- oder Verarbeitungsprinzip der Variation in ſich aufnimmt und auf dieſem Wege große, die beiden Elemente der Einheit und der Mannigfaltigkeit völlig befriedigend vereinigende Tonſätze hervorbringt.
§. 790.
Die zweite Hauptart der auf dem Prinzip thematiſcher Ausführung be- ruhenden cycliſchen Muſik iſt die Compoſitionsform, die man kurz als die Form der freien muſikaliſchen Gedankenentwicklung bezeichnen kann. Ein in ſich bereits mannigfaltig gegliederter Hauptgedanke führt un- mittelbar oder durch Zwiſchenſätze zu einem zweiten, mit innerer Nothwendigkeit aus ihm hervorgehenden, in andrer Tonart auftretenden fort, mit deſſen voll- ſtändiger Durchführung, ſowie mit hinzukommenden Nebenſätzen oder kürzern Wiederholungen, variirenden Entwicklungen des erſten Hauptgedankens, zunächſt ein Abſchluß eintritt. Aus dem ſo gebildeten erſten Theil entwickelt ſich ein zweiter, welcher in der Regel den erſten durch modulatoriſch, harmoniſch und rhythmiſch noch reichere und belebtere Bearbeitung von Gedanken deſſelben weiter führt und ſodann allmälig wieder in den einfachern und ruhigern Gang des erſten Theils einlenkt, um mit ihm, wiewohl wiederum nicht ohne einzelne Erweiterungen, Veränderungen, Entwicklungen ſeiner Gedanken oder auch mit Fortführung derſelben zu eigenen Schlußſätzen, in der Grundtonart zu ſchließen. So entſteht ein Satz, in welchem Einheit ſich ſelbſt zur Mannigfaltigkeit organiſch erweitert und fortentwickelt, dieſe Mannigfaltigkeit aber ebenſo naturgemäß zur Einheit wiederum zurückgeht und ſo neben allem Wechſel die vollſtändigſte, fließendſte, einheitliche Abrundung des ganzen Tonbilds erzielt wird.
Die Grundform der Muſik, Zweitheiligkeit ſich gliedernd in Perioden und (kleinere) Sätze, war in den bis jetzt betrachteten Formen nicht das beherrſchende Prinzip der ganzen Anordnung des Tonſtücks; als ſolches
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zugleich genöthigt ſtets wieder von vorne anzufangen, ein Ganzes von
Variationen zerfällt in ſelbſtändige Stücke, die einander verwandt, aber jedes
wieder ein Ganzes für ſich ſind. In dieſer Beziehung gehört die Variation
ſelbſt wieder der aggregatartigen Muſikform an, ſie hat zu wenig Continuität,
Fluß und ungehemmten Fortgang. Wie das Rondo zur Variation fort-
treibt, damit ſtrengere und zugleich reicher entwickelte Gedankeneinheit erzielt
werde, ſo treibt die Variation zu einer noch höheren Kunſtform fort, welche
Gedankeneinheit hat ohne Einförmigkeit, reiche Gedankenentwicklung ohne
Zerſplitterung in ſelbſtändige variirende Stücke. Dieſe Form entſteht da-
durch, daß die cycliſche Muſik wieder zurückkehrt zur Grundform aller Muſik,
d. h. zu der in Perioden und (kleinere) Sätze ſich gliedernden Zweitheiligkeit,
die aber das Erweiterungsprinzip des Rondo und das Entwicklungs- oder
Verarbeitungsprinzip der Variation in ſich aufnimmt und auf dieſem Wege
große, die beiden Elemente der Einheit und der Mannigfaltigkeit völlig
befriedigend vereinigende Tonſätze hervorbringt.
§. 790.
Die zweite Hauptart der auf dem Prinzip thematiſcher Ausführung be-
ruhenden cycliſchen Muſik iſt die Compoſitionsform, die man kurz als die
Form der freien muſikaliſchen Gedankenentwicklung bezeichnen
kann. Ein in ſich bereits mannigfaltig gegliederter Hauptgedanke führt un-
mittelbar oder durch Zwiſchenſätze zu einem zweiten, mit innerer Nothwendigkeit
aus ihm hervorgehenden, in andrer Tonart auftretenden fort, mit deſſen voll-
ſtändiger Durchführung, ſowie mit hinzukommenden Nebenſätzen oder kürzern
Wiederholungen, variirenden Entwicklungen des erſten Hauptgedankens, zunächſt
ein Abſchluß eintritt. Aus dem ſo gebildeten erſten Theil entwickelt ſich ein
zweiter, welcher in der Regel den erſten durch modulatoriſch, harmoniſch und
rhythmiſch noch reichere und belebtere Bearbeitung von Gedanken deſſelben weiter
führt und ſodann allmälig wieder in den einfachern und ruhigern Gang des
erſten Theils einlenkt, um mit ihm, wiewohl wiederum nicht ohne einzelne
Erweiterungen, Veränderungen, Entwicklungen ſeiner Gedanken oder auch mit
Fortführung derſelben zu eigenen Schlußſätzen, in der Grundtonart zu ſchließen.
So entſteht ein Satz, in welchem Einheit ſich ſelbſt zur Mannigfaltigkeit organiſch
erweitert und fortentwickelt, dieſe Mannigfaltigkeit aber ebenſo naturgemäß zur
Einheit wiederum zurückgeht und ſo neben allem Wechſel die vollſtändigſte,
fließendſte, einheitliche Abrundung des ganzen Tonbilds erzielt wird.
Die Grundform der Muſik, Zweitheiligkeit ſich gliedernd in Perioden
und (kleinere) Sätze, war in den bis jetzt betrachteten Formen nicht das
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 960. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/198>, abgerufen am 30.12.2024.
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