sowie contrapunctischer, nachahmender und kanonischer Sätze innerhalb eines sonst ganz in freiem homophonem Styl gehaltenen Tonganzen. Hier (z. B. im "Mittelsatze" eines Symphonirsatzes) ist das Verhältniß dieses, daß die freie, einfache Bewegung zu einer gebundenern, verwickeltern sich verdichtet; die Stimmen, die bisher homophon waren, spannen sich für einige Zeit gegen einander, um ein in sich mannigfaltigeres, lebendigeres, gedrungeneres Tonbild hervorzubringen und damit die Gesammtbewegung zur höchsten Höhe der Erregtheit oder Energie hinanzuführen. Hier ist umgekehrt die polyphone Verwicklung Resultat der homophonen Einzel- bewegung, das erst dann wieder verlassen wird, nachdem auch dieses ver- wickeltere Gegeneinanderarbeiten der Töne seinen Kreislauf durch verschie- dene Stimmen hindurch vollendet hat; es wird ein Knoten vorbereitet, in den polyphonen Sätzen wirklich geschürzt und wieder entwirrt und hiemit der Rückgang zur Hauptbewegung, zur Homophonie gemacht, die nun um so mehr mit dem Eindruck des Leichten und Freien einhergeht, nachdem sie die polyphonische Verwicklung sich selbst als ihren Gegensatz gegenüberge- stellt, sich in sie wie in eine dunklere Region hinein verloren und sich wie- der aus ihr herausgefunden hat. Es ist klar, daß solche polyphone Sätze ihre vollste Berechtigung haben, daß ein ganz richtiges Gefühl auf sie ge- führt hat, und daß sie so wenig als die strengen polyphonen Formen je veralten können, so wahr es immerhin bleibt, daß in frühern Jahrhun- derten viel zu großer Werth auf diese gelegt worden ist.
Eine besondere Anwendung findet die Polyphonie endlich noch als Begleitung einfacher melodischer Sätze. Eine homophone Tonbewegung, eine Einzelstimme kann mit contrapunctischen, nachahmenden, fugirten Sätzen umgeben werden; namentlich ward früher der Contrapunct zu derartiger Begleitung einer Hauptstimme, des sog. cantus firmus, gebraucht. Häu- fig ist auch die eine von zwei contrapunctisch zusammengehenden Stimmen selbst Hauptstimme, ein Verfahren, bei welchem zwar die gleiche Selbstän- digkeit der Stimmen verloren geht, dagegen mehr Einheit in der ganzen Bewegung ist, so daß natürlich auch diese Form des Contrapuncts, welche in freier Weise besonders die Instrumentalmusik anwenden kann, um ein Thema mit Nebenmelodieen zu umspielen, nicht im Geringsten zu bean- standen ist.
§. 786.
1.
Die zweite Form des zusammengesetzten musikalischen Kunst- werks (§. 781) entsteht dadurch, daß die Musik über die Form des ein- fachen für sich bestehenden melodischen Tonstücks hinausgeht und sich ausbreitet zu einer Reihenfolge von melodischen oder melodiösen Sätzen, die zusammen ein Ganzes ausmachen. Innerhalb dieser Gattung sind aber gleich drei Unterarten
ſowie contrapunctiſcher, nachahmender und kanoniſcher Sätze innerhalb eines ſonſt ganz in freiem homophonem Styl gehaltenen Tonganzen. Hier (z. B. im „Mittelſatze“ eines Symphonirſatzes) iſt das Verhältniß dieſes, daß die freie, einfache Bewegung zu einer gebundenern, verwickeltern ſich verdichtet; die Stimmen, die bisher homophon waren, ſpannen ſich für einige Zeit gegen einander, um ein in ſich mannigfaltigeres, lebendigeres, gedrungeneres Tonbild hervorzubringen und damit die Geſammtbewegung zur höchſten Höhe der Erregtheit oder Energie hinanzuführen. Hier iſt umgekehrt die polyphone Verwicklung Reſultat der homophonen Einzel- bewegung, das erſt dann wieder verlaſſen wird, nachdem auch dieſes ver- wickeltere Gegeneinanderarbeiten der Töne ſeinen Kreislauf durch verſchie- dene Stimmen hindurch vollendet hat; es wird ein Knoten vorbereitet, in den polyphonen Sätzen wirklich geſchürzt und wieder entwirrt und hiemit der Rückgang zur Hauptbewegung, zur Homophonie gemacht, die nun um ſo mehr mit dem Eindruck des Leichten und Freien einhergeht, nachdem ſie die polyphoniſche Verwicklung ſich ſelbſt als ihren Gegenſatz gegenüberge- ſtellt, ſich in ſie wie in eine dunklere Region hinein verloren und ſich wie- der aus ihr herausgefunden hat. Es iſt klar, daß ſolche polyphone Sätze ihre vollſte Berechtigung haben, daß ein ganz richtiges Gefühl auf ſie ge- führt hat, und daß ſie ſo wenig als die ſtrengen polyphonen Formen je veralten können, ſo wahr es immerhin bleibt, daß in frühern Jahrhun- derten viel zu großer Werth auf dieſe gelegt worden iſt.
Eine beſondere Anwendung findet die Polyphonie endlich noch als Begleitung einfacher melodiſcher Sätze. Eine homophone Tonbewegung, eine Einzelſtimme kann mit contrapunctiſchen, nachahmenden, fugirten Sätzen umgeben werden; namentlich ward früher der Contrapunct zu derartiger Begleitung einer Hauptſtimme, des ſog. cantus firmus, gebraucht. Häu- fig iſt auch die eine von zwei contrapunctiſch zuſammengehenden Stimmen ſelbſt Hauptſtimme, ein Verfahren, bei welchem zwar die gleiche Selbſtän- digkeit der Stimmen verloren geht, dagegen mehr Einheit in der ganzen Bewegung iſt, ſo daß natürlich auch dieſe Form des Contrapuncts, welche in freier Weiſe beſonders die Inſtrumentalmuſik anwenden kann, um ein Thema mit Nebenmelodieen zu umſpielen, nicht im Geringſten zu bean- ſtanden iſt.
§. 786.
1.
Die zweite Form des zuſammengeſetzten muſikaliſchen Kunſt- werks (§. 781) entſteht dadurch, daß die Muſik über die Form des ein- fachen für ſich beſtehenden melodiſchen Tonſtücks hinausgeht und ſich ausbreitet zu einer Reihenfolge von melodiſchen oder melodiöſen Sätzen, die zuſammen ein Ganzes ausmachen. Innerhalb dieſer Gattung ſind aber gleich drei Unterarten
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ſowie contrapunctiſcher, nachahmender und kanoniſcher Sätze innerhalb eines
ſonſt ganz in freiem homophonem Styl gehaltenen Tonganzen. Hier
(z. B. im „Mittelſatze“ eines Symphonirſatzes) iſt das Verhältniß dieſes,
daß die freie, einfache Bewegung zu einer gebundenern, verwickeltern ſich
verdichtet; die Stimmen, die bisher homophon waren, ſpannen ſich für
einige Zeit gegen einander, um ein in ſich mannigfaltigeres, lebendigeres,
gedrungeneres Tonbild hervorzubringen und damit die Geſammtbewegung
zur höchſten Höhe der Erregtheit oder Energie hinanzuführen. Hier iſt
umgekehrt die polyphone Verwicklung Reſultat der homophonen Einzel-
bewegung, das erſt dann wieder verlaſſen wird, nachdem auch dieſes ver-
wickeltere Gegeneinanderarbeiten der Töne ſeinen Kreislauf durch verſchie-
dene Stimmen hindurch vollendet hat; es wird ein Knoten vorbereitet, in
den polyphonen Sätzen wirklich geſchürzt und wieder entwirrt und hiemit
der Rückgang zur Hauptbewegung, zur Homophonie gemacht, die nun um
ſo mehr mit dem Eindruck des Leichten und Freien einhergeht, nachdem ſie
die polyphoniſche Verwicklung ſich ſelbſt als ihren Gegenſatz gegenüberge-
ſtellt, ſich in ſie wie in eine dunklere Region hinein verloren und ſich wie-
der aus ihr herausgefunden hat. Es iſt klar, daß ſolche polyphone Sätze
ihre vollſte Berechtigung haben, daß ein ganz richtiges Gefühl auf ſie ge-
führt hat, und daß ſie ſo wenig als die ſtrengen polyphonen Formen je
veralten können, ſo wahr es immerhin bleibt, daß in frühern Jahrhun-
derten viel zu großer Werth auf dieſe gelegt worden iſt.
Eine beſondere Anwendung findet die Polyphonie endlich noch als
Begleitung einfacher melodiſcher Sätze. Eine homophone Tonbewegung,
eine Einzelſtimme kann mit contrapunctiſchen, nachahmenden, fugirten Sätzen
umgeben werden; namentlich ward früher der Contrapunct zu derartiger
Begleitung einer Hauptſtimme, des ſog. cantus firmus, gebraucht. Häu-
fig iſt auch die eine von zwei contrapunctiſch zuſammengehenden Stimmen
ſelbſt Hauptſtimme, ein Verfahren, bei welchem zwar die gleiche Selbſtän-
digkeit der Stimmen verloren geht, dagegen mehr Einheit in der ganzen
Bewegung iſt, ſo daß natürlich auch dieſe Form des Contrapuncts, welche
in freier Weiſe beſonders die Inſtrumentalmuſik anwenden kann, um ein
Thema mit Nebenmelodieen zu umſpielen, nicht im Geringſten zu bean-
ſtanden iſt.
§. 786.
Die zweite Form des zuſammengeſetzten muſikaliſchen Kunſt-
werks (§. 781) entſteht dadurch, daß die Muſik über die Form des ein-
fachen für ſich beſtehenden melodiſchen Tonſtücks hinausgeht und ſich ausbreitet
zu einer Reihenfolge von melodiſchen oder melodiöſen Sätzen, die zuſammen ein
Ganzes ausmachen. Innerhalb dieſer Gattung ſind aber gleich drei Unterarten
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 950. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/188>, abgerufen am 21.12.2024.
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