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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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daß das nun zu einer Welt von inneren Formen und Unterschieden ent-
wickelte Element gegenüber dem Dringen des Geistes auf objective Bestimmt-
heit nicht noch immer als eigenschaftslos, unterschiedslos sich darstellte:
dieß ist die eine Seite, welche merkbarer, als in andern Künsten, fortleitet,
weiter weist; aber ebenso gewiß ist, daß das Gefühl mit jener Art von
Sprache, die es als Form der Phantasie und Kunst gewinnt, Solches sagen
kann, was durch gar kein anderes Organ hinreichend gesagt werden kann.
Kein Bild, kein Wort kann dieß Eigenste und Innerste des Herzens aus-
sprechen wie die Musik, ihre Innigkeit ist unvergleichlich, sie ist unersetzlich,
ein rein selbständiges, in reiner Eigenkraft bestehendes Wesen. Ja die
Betrachtung der Musik müßte eigentlich in ganz anderem Umfang, als die
der andern Künste, in die Psychologie gezogen werden. Was die letzteren
betrifft, so genügt es dieser Wissenschaft, die inneren Unterschiede der Phantasie,
worauf sie beruhen, im Allgemeinen aufzuzeigen, was aber das Gefühl sei,
erfahren wir so entschieden nur durch die Kunstform, die es sich durch die
Bildungskraft der Phantasie in der Musik gibt, daß eigentlich der Apparat
dieser Kunst vom Psychologen zu Hülfe zu nehmen ist, um das innere Leben
des Gefühls, auch abgesehen von der Kunst, zu beleuchten; von der An-
schauung, von der Vorstellung wissen wir auch ohne die Kunst, über das
Gefühl belehrt nur sie uns.

§. 748.

Im Gefühle wird das Subject seiner selbst inne, wie es in seinen Lebens-
bedingungen durch die objective Welt gefördert oder gehemmt ist. Es vollzieht
nicht den unterscheidenden Act des Bewußtseins, welches Subject und Object
auseinanderhält und das letztere durch Prädicate bestimmt; es wird in seiner
Reinheit nur gefaßt, wenn es von diesem Acte, der es zwar zu begleiten pflegt,
in der Betrachtung ganz getrennt gehalten wird; es ist daher vergleichungsweise
dunkel, indem es nur seine eigene Stimmung, nichts von dem Gegenstand aus-
sagt, durch den sie erregt ist. Es ist aber eine ungleich tiefere Form des Seelen-
lebens, als das Bewußtsein, indem es die objective Welt in das innere Leben
des Selbst und dessen einfache Idealität verwandelt. Seine Bewegung ist un-
willkührlich, aber ebenso sehr verhüllte Freiheit. In ihm ist der reine Act des
Selbstbewußtseins, von dem alle Thätigkeit des Denkens und Wollens ausgeht,
in geistiger Naturform vorgebildet.

Um den Inhalt des §. zu erläutern, wird es am zweckmäßigsten sein,
zuerst die Begriffe: Bewußtsein und Selbstbewußtsein klar zu unterscheiden;
es wird dann die Natur des Gefühls, wie es die Mitte zwischen diesen
beiden Acten, ja die Mitte der ganzen Geisteswelt bildet, leichter zu fassen

daß das nun zu einer Welt von inneren Formen und Unterſchieden ent-
wickelte Element gegenüber dem Dringen des Geiſtes auf objective Beſtimmt-
heit nicht noch immer als eigenſchaftslos, unterſchiedslos ſich darſtellte:
dieß iſt die eine Seite, welche merkbarer, als in andern Künſten, fortleitet,
weiter weist; aber ebenſo gewiß iſt, daß das Gefühl mit jener Art von
Sprache, die es als Form der Phantaſie und Kunſt gewinnt, Solches ſagen
kann, was durch gar kein anderes Organ hinreichend geſagt werden kann.
Kein Bild, kein Wort kann dieß Eigenſte und Innerſte des Herzens aus-
ſprechen wie die Muſik, ihre Innigkeit iſt unvergleichlich, ſie iſt unerſetzlich,
ein rein ſelbſtändiges, in reiner Eigenkraft beſtehendes Weſen. Ja die
Betrachtung der Muſik müßte eigentlich in ganz anderem Umfang, als die
der andern Künſte, in die Pſychologie gezogen werden. Was die letzteren
betrifft, ſo genügt es dieſer Wiſſenſchaft, die inneren Unterſchiede der Phantaſie,
worauf ſie beruhen, im Allgemeinen aufzuzeigen, was aber das Gefühl ſei,
erfahren wir ſo entſchieden nur durch die Kunſtform, die es ſich durch die
Bildungskraft der Phantaſie in der Muſik gibt, daß eigentlich der Apparat
dieſer Kunſt vom Pſychologen zu Hülfe zu nehmen iſt, um das innere Leben
des Gefühls, auch abgeſehen von der Kunſt, zu beleuchten; von der An-
ſchauung, von der Vorſtellung wiſſen wir auch ohne die Kunſt, über das
Gefühl belehrt nur ſie uns.

§. 748.

Im Gefühle wird das Subject ſeiner ſelbſt inne, wie es in ſeinen Lebens-
bedingungen durch die objective Welt gefördert oder gehemmt iſt. Es vollzieht
nicht den unterſcheidenden Act des Bewußtſeins, welches Subject und Object
auseinanderhält und das letztere durch Prädicate beſtimmt; es wird in ſeiner
Reinheit nur gefaßt, wenn es von dieſem Acte, der es zwar zu begleiten pflegt,
in der Betrachtung ganz getrennt gehalten wird; es iſt daher vergleichungsweiſe
dunkel, indem es nur ſeine eigene Stimmung, nichts von dem Gegenſtand aus-
ſagt, durch den ſie erregt iſt. Es iſt aber eine ungleich tiefere Form des Seelen-
lebens, als das Bewußtſein, indem es die objective Welt in das innere Leben
des Selbſt und deſſen einfache Idealität verwandelt. Seine Bewegung iſt un-
willkührlich, aber ebenſo ſehr verhüllte Freiheit. In ihm iſt der reine Act des
Selbſtbewußtſeins, von dem alle Thätigkeit des Denkens und Wollens ausgeht,
in geiſtiger Naturform vorgebildet.

Um den Inhalt des §. zu erläutern, wird es am zweckmäßigſten ſein,
zuerſt die Begriffe: Bewußtſein und Selbſtbewußtſein klar zu unterſcheiden;
es wird dann die Natur des Gefühls, wie es die Mitte zwiſchen dieſen
beiden Acten, ja die Mitte der ganzen Geiſteswelt bildet, leichter zu faſſen

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[780/0018] daß das nun zu einer Welt von inneren Formen und Unterſchieden ent- wickelte Element gegenüber dem Dringen des Geiſtes auf objective Beſtimmt- heit nicht noch immer als eigenſchaftslos, unterſchiedslos ſich darſtellte: dieß iſt die eine Seite, welche merkbarer, als in andern Künſten, fortleitet, weiter weist; aber ebenſo gewiß iſt, daß das Gefühl mit jener Art von Sprache, die es als Form der Phantaſie und Kunſt gewinnt, Solches ſagen kann, was durch gar kein anderes Organ hinreichend geſagt werden kann. Kein Bild, kein Wort kann dieß Eigenſte und Innerſte des Herzens aus- ſprechen wie die Muſik, ihre Innigkeit iſt unvergleichlich, ſie iſt unerſetzlich, ein rein ſelbſtändiges, in reiner Eigenkraft beſtehendes Weſen. Ja die Betrachtung der Muſik müßte eigentlich in ganz anderem Umfang, als die der andern Künſte, in die Pſychologie gezogen werden. Was die letzteren betrifft, ſo genügt es dieſer Wiſſenſchaft, die inneren Unterſchiede der Phantaſie, worauf ſie beruhen, im Allgemeinen aufzuzeigen, was aber das Gefühl ſei, erfahren wir ſo entſchieden nur durch die Kunſtform, die es ſich durch die Bildungskraft der Phantaſie in der Muſik gibt, daß eigentlich der Apparat dieſer Kunſt vom Pſychologen zu Hülfe zu nehmen iſt, um das innere Leben des Gefühls, auch abgeſehen von der Kunſt, zu beleuchten; von der An- ſchauung, von der Vorſtellung wiſſen wir auch ohne die Kunſt, über das Gefühl belehrt nur ſie uns. §. 748. Im Gefühle wird das Subject ſeiner ſelbſt inne, wie es in ſeinen Lebens- bedingungen durch die objective Welt gefördert oder gehemmt iſt. Es vollzieht nicht den unterſcheidenden Act des Bewußtſeins, welches Subject und Object auseinanderhält und das letztere durch Prädicate beſtimmt; es wird in ſeiner Reinheit nur gefaßt, wenn es von dieſem Acte, der es zwar zu begleiten pflegt, in der Betrachtung ganz getrennt gehalten wird; es iſt daher vergleichungsweiſe dunkel, indem es nur ſeine eigene Stimmung, nichts von dem Gegenſtand aus- ſagt, durch den ſie erregt iſt. Es iſt aber eine ungleich tiefere Form des Seelen- lebens, als das Bewußtſein, indem es die objective Welt in das innere Leben des Selbſt und deſſen einfache Idealität verwandelt. Seine Bewegung iſt un- willkührlich, aber ebenſo ſehr verhüllte Freiheit. In ihm iſt der reine Act des Selbſtbewußtſeins, von dem alle Thätigkeit des Denkens und Wollens ausgeht, in geiſtiger Naturform vorgebildet. Um den Inhalt des §. zu erläutern, wird es am zweckmäßigſten ſein, zuerſt die Begriffe: Bewußtſein und Selbſtbewußtſein klar zu unterſcheiden; es wird dann die Natur des Gefühls, wie es die Mitte zwiſchen dieſen beiden Acten, ja die Mitte der ganzen Geiſteswelt bildet, leichter zu faſſen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 780. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/18>, abgerufen am 21.12.2024.