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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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2. Die Malerei ist wie die Sculptur auf den fruchtbaren Moment
gewiesen. Wir haben zu §. 613 drei Stadien unterschieden: Anlauf,
vollen Ausbruch, Ablauf, und gefunden, daß der Bildnerkunst vorzüglich
die dritte dieser Stufen zusagen muß. Die Malerei aber als eine Kunst
des bewegten Wurfes, nicht der vorherrschenden Ruhe, als eine Kunst
des zündenden Ausdrucks, des Affects, der leichteren Auflösung des Häß-
lichen wird ein anderes Gesetz haben, als die Sculptur. Natürlich
wird sie den Moment des vollen Ausbruchs weniger scheuen, als diese;
der Bethlehemitische Kindermord, die Ermordung der Kinder Eduards
mag in vollem Laufe des Schrecklichen zur Darstellung kommen. Allein
nicht nur hat das Häßliche auch für sie ein Maaß, nicht nur fühlt
man auch bei ihr stark genug den Mangel des mitwirkenden Tons und
der wirklichen Fortbewegung, sondern sie theilt mit aller bildenden Kunst
das Gebot, auf die Phantasie so zu wirken, daß ein noch Stärkeres, als
das Dargestellte, mit der ganzen Kraft der Unendlichkeit innerlich vorzu-
stellen übrig bleibt. Daher ist es ächt malerisch, wenn ein bekanntes
französisches Bild den Bethl. Kindermord in einer einzigen Mutter dar-
stellt, die in namenloser Bangigkeit in einer Ecke zusammengekauert ihr
Kind krampfhaft umfaßt, während man im Hintergrunde die Mörder
nahen sieht, oder wenn Delaroche den Moment der Ermordung der
Knaben im Tower wählte, wo sie aufgeschreckt von einem Geräusch, das
durch ein bellendes Hündchen angezeigt ist, in Todesangst von ihrem
Lager nach der Stelle sehen, woher man die Tritte des Mörders ver-
nimmt; doch hat auch Hildebrand zwar den ersten Schritt der Ausführung
des Mords, aber nicht das Ersticken selbst dargestellt. Solche straffe
Spannung, solche Stellung auf die haarscharfe Schneide des Messers ist
durch und durch dramatisch und die Malerei erweist sich als tief ver-
wandt diesem Zweige der Dichtkunst, während die Sculptur von epischem
Geiste getragen ist. Das Drama wirkt als gegenwärtige Darstellung
ganz auf den Moment, faßt eine Summe von Hebeln in eine Spitze zu-
sammen, die es mit der ganzen Kraft der Gegenwart scharf und straff
in die Seele des Zuschauers treibt; das Epos kühlt allen Stoff in den
ruhigen, klaren Wassern der Vergangenheit ab. Gegenwärtig in vollem
Sinne des Worts ist alles Werk der bildenden Kunst und wir werden das
Drama als eine Wiederherstellung dieser Form innerhalb der Poesie erken-
nen; aber die Sculptur senkt trotz der handgreiflicheren Form, welche das
Gegenwärtige in ihrem Werk annimmt, durch ihre Versteinerung die Gestalt
wieder in die krystallene Grotte, den kühlen Meeresgrund des Vergangenen,
die Malerei führt sie trotz der geringeren Körperhaftigkeit durch das
Feuer des farbigen Scheins unmittelbarer in die Luft des heißen Tages
der Gegenwart. Neben dem Charakter der Farbe ist es vorzüglich das

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2. Die Malerei iſt wie die Sculptur auf den fruchtbaren Moment
gewieſen. Wir haben zu §. 613 drei Stadien unterſchieden: Anlauf,
vollen Ausbruch, Ablauf, und gefunden, daß der Bildnerkunſt vorzüglich
die dritte dieſer Stufen zuſagen muß. Die Malerei aber als eine Kunſt
des bewegten Wurfes, nicht der vorherrſchenden Ruhe, als eine Kunſt
des zündenden Ausdrucks, des Affects, der leichteren Auflöſung des Häß-
lichen wird ein anderes Geſetz haben, als die Sculptur. Natürlich
wird ſie den Moment des vollen Ausbruchs weniger ſcheuen, als dieſe;
der Bethlehemitiſche Kindermord, die Ermordung der Kinder Eduards
mag in vollem Laufe des Schrecklichen zur Darſtellung kommen. Allein
nicht nur hat das Häßliche auch für ſie ein Maaß, nicht nur fühlt
man auch bei ihr ſtark genug den Mangel des mitwirkenden Tons und
der wirklichen Fortbewegung, ſondern ſie theilt mit aller bildenden Kunſt
das Gebot, auf die Phantaſie ſo zu wirken, daß ein noch Stärkeres, als
das Dargeſtellte, mit der ganzen Kraft der Unendlichkeit innerlich vorzu-
ſtellen übrig bleibt. Daher iſt es ächt maleriſch, wenn ein bekanntes
franzöſiſches Bild den Bethl. Kindermord in einer einzigen Mutter dar-
ſtellt, die in namenloſer Bangigkeit in einer Ecke zuſammengekauert ihr
Kind krampfhaft umfaßt, während man im Hintergrunde die Mörder
nahen ſieht, oder wenn Delaroche den Moment der Ermordung der
Knaben im Tower wählte, wo ſie aufgeſchreckt von einem Geräuſch, das
durch ein bellendes Hündchen angezeigt iſt, in Todesangſt von ihrem
Lager nach der Stelle ſehen, woher man die Tritte des Mörders ver-
nimmt; doch hat auch Hildebrand zwar den erſten Schritt der Ausführung
des Mords, aber nicht das Erſticken ſelbſt dargeſtellt. Solche ſtraffe
Spannung, ſolche Stellung auf die haarſcharfe Schneide des Meſſers iſt
durch und durch dramatiſch und die Malerei erweist ſich als tief ver-
wandt dieſem Zweige der Dichtkunſt, während die Sculptur von epiſchem
Geiſte getragen iſt. Das Drama wirkt als gegenwärtige Darſtellung
ganz auf den Moment, faßt eine Summe von Hebeln in eine Spitze zu-
ſammen, die es mit der ganzen Kraft der Gegenwart ſcharf und ſtraff
in die Seele des Zuſchauers treibt; das Epos kühlt allen Stoff in den
ruhigen, klaren Waſſern der Vergangenheit ab. Gegenwärtig in vollem
Sinne des Worts iſt alles Werk der bildenden Kunſt und wir werden das
Drama als eine Wiederherſtellung dieſer Form innerhalb der Poeſie erken-
nen; aber die Sculptur ſenkt trotz der handgreiflicheren Form, welche das
Gegenwärtige in ihrem Werk annimmt, durch ihre Verſteinerung die Geſtalt
wieder in die kryſtallene Grotte, den kühlen Meeresgrund des Vergangenen,
die Malerei führt ſie trotz der geringeren Körperhaftigkeit durch das
Feuer des farbigen Scheins unmittelbarer in die Luft des heißen Tages
der Gegenwart. Neben dem Charakter der Farbe iſt es vorzüglich das

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[603/0111] 2. Die Malerei iſt wie die Sculptur auf den fruchtbaren Moment gewieſen. Wir haben zu §. 613 drei Stadien unterſchieden: Anlauf, vollen Ausbruch, Ablauf, und gefunden, daß der Bildnerkunſt vorzüglich die dritte dieſer Stufen zuſagen muß. Die Malerei aber als eine Kunſt des bewegten Wurfes, nicht der vorherrſchenden Ruhe, als eine Kunſt des zündenden Ausdrucks, des Affects, der leichteren Auflöſung des Häß- lichen wird ein anderes Geſetz haben, als die Sculptur. Natürlich wird ſie den Moment des vollen Ausbruchs weniger ſcheuen, als dieſe; der Bethlehemitiſche Kindermord, die Ermordung der Kinder Eduards mag in vollem Laufe des Schrecklichen zur Darſtellung kommen. Allein nicht nur hat das Häßliche auch für ſie ein Maaß, nicht nur fühlt man auch bei ihr ſtark genug den Mangel des mitwirkenden Tons und der wirklichen Fortbewegung, ſondern ſie theilt mit aller bildenden Kunſt das Gebot, auf die Phantaſie ſo zu wirken, daß ein noch Stärkeres, als das Dargeſtellte, mit der ganzen Kraft der Unendlichkeit innerlich vorzu- ſtellen übrig bleibt. Daher iſt es ächt maleriſch, wenn ein bekanntes franzöſiſches Bild den Bethl. Kindermord in einer einzigen Mutter dar- ſtellt, die in namenloſer Bangigkeit in einer Ecke zuſammengekauert ihr Kind krampfhaft umfaßt, während man im Hintergrunde die Mörder nahen ſieht, oder wenn Delaroche den Moment der Ermordung der Knaben im Tower wählte, wo ſie aufgeſchreckt von einem Geräuſch, das durch ein bellendes Hündchen angezeigt iſt, in Todesangſt von ihrem Lager nach der Stelle ſehen, woher man die Tritte des Mörders ver- nimmt; doch hat auch Hildebrand zwar den erſten Schritt der Ausführung des Mords, aber nicht das Erſticken ſelbſt dargeſtellt. Solche ſtraffe Spannung, ſolche Stellung auf die haarſcharfe Schneide des Meſſers iſt durch und durch dramatiſch und die Malerei erweist ſich als tief ver- wandt dieſem Zweige der Dichtkunſt, während die Sculptur von epiſchem Geiſte getragen iſt. Das Drama wirkt als gegenwärtige Darſtellung ganz auf den Moment, faßt eine Summe von Hebeln in eine Spitze zu- ſammen, die es mit der ganzen Kraft der Gegenwart ſcharf und ſtraff in die Seele des Zuſchauers treibt; das Epos kühlt allen Stoff in den ruhigen, klaren Waſſern der Vergangenheit ab. Gegenwärtig in vollem Sinne des Worts iſt alles Werk der bildenden Kunſt und wir werden das Drama als eine Wiederherſtellung dieſer Form innerhalb der Poeſie erken- nen; aber die Sculptur ſenkt trotz der handgreiflicheren Form, welche das Gegenwärtige in ihrem Werk annimmt, durch ihre Verſteinerung die Geſtalt wieder in die kryſtallene Grotte, den kühlen Meeresgrund des Vergangenen, die Malerei führt ſie trotz der geringeren Körperhaftigkeit durch das Feuer des farbigen Scheins unmittelbarer in die Luft des heißen Tages der Gegenwart. Neben dem Charakter der Farbe iſt es vorzüglich das 40*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 603. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/111>, abgerufen am 26.04.2024.