Sprache doch tiefer, umfassender, Geist-offenbarender, als die ihrer ernsten, kälteren, in ruhiger Würde der Zuschauer gegenüber in sich verharrenden Schwester.
§. 653.
Nun erst erhellt die wahre Bedeutung des Gewinns in der Weite (§. 650). Dem zu seiner Einheit und Unendlichkeit gesammelten Geiste steht die Vielheit der endlichen Welt in der Breite und Fülle ihrer Erscheinungen selbständig ge- genüber; die ausschließende Zusammenziehung der Natur und Menschheit in ab- solut ideale Wesen ist zu Ende. Der Geist hat aber die Welt zu dieser Selb- ständigkeit nur entlassen, weil er sie seiner innern Unendlichkeit gegenüber als Endliches gesetzt hat: ebendarum greift er wieder in sie über, umspannt sie, hebt sie in seine Unendlichkeit. So ist die Malerei ebensosehr ausgegossener, als gesammelter Geist, Ausdruck des in seiner Sammlung ausgegos- senen und in seiner Ausgießung gesammelten Geistes.
Die "Vielheit der endlichen Welt": so ist das dem Geiste Gegen- übertretende bezeichnet, um auszudrücken, daß es sich nicht blos von so- genannt Aeußerem, Sinnlichem handelt. Das verhüllte geistige Prinzip in der außermenschlichen unorganischen und organischen Natur, das offen- bare im Menschen nennen wir in seiner Allgemeinheit den Geist und ha- ben, indem wir ihn so herausziehen aus dem Einzelnen, worin er doch allein lebt und wirkt, durch diese nothwendige Abstraction all das Viele, worin er eben wirkt, außer ihn hingestellt. Dieß Viele ist nun nicht blos die Natur, in welcher das geistige Prinzip noch unbewußt schlummert; es sind auch die Menschen als die Vielen darunter befaßt: der zum Be- wußtsein seiner Unendlichkeit gekommene Geist in einem Menschen weiß sich als Einen mit demselben Geist in den andern trotz dem Trennenden, was die Individuen scheidet; neben dieses Einheitsbewußtsein fällt uns nun auch die Vielheit der menschlichen Individuen zunächst äußerlich so hin, als ob das Individuenbildende nur eine sinnliche Kraft der Natur wäre, nicht auch aus dem Geiste hervorgienge, welcher in der verhüllten Form blinder Nothwendigkeit der Natur Gesetze gebend innewohnt, wel- cher die Gattung in Individuen zerlegt, um eben in der Vielheit die Ein- heit dazustellen und ihre höheren Zwecke thätig zu erwirken, und welcher in der höchsten Gattung zu sich kommt, bewußter Geist wird. Zu dem Vielen der endlichen Welt gehört ferner dem Geist im Menschen gegen- über auch seine eigene sinnliche Gestalt, welche zwar die realisirte Form des Geistes selbst ist, aber als Erscheinendes in die Vielheit der Sinne, Organe sich auseinanderlegt. Aber noch mehr: auch das Viele, das als
Sprache doch tiefer, umfaſſender, Geiſt-offenbarender, als die ihrer ernſten, kälteren, in ruhiger Würde der Zuſchauer gegenüber in ſich verharrenden Schweſter.
§. 653.
Nun erſt erhellt die wahre Bedeutung des Gewinns in der Weite (§. 650). Dem zu ſeiner Einheit und Unendlichkeit geſammelten Geiſte ſteht die Vielheit der endlichen Welt in der Breite und Fülle ihrer Erſcheinungen ſelbſtändig ge- genüber; die ausſchließende Zuſammenziehung der Natur und Menſchheit in ab- ſolut ideale Weſen iſt zu Ende. Der Geiſt hat aber die Welt zu dieſer Selb- ſtändigkeit nur entlaſſen, weil er ſie ſeiner innern Unendlichkeit gegenüber als Endliches geſetzt hat: ebendarum greift er wieder in ſie über, umſpannt ſie, hebt ſie in ſeine Unendlichkeit. So iſt die Malerei ebenſoſehr ausgegoſſener, als geſammelter Geiſt, Ausdruck des in ſeiner Sammlung ausgegoſ- ſenen und in ſeiner Ausgießung geſammelten Geiſtes.
Die „Vielheit der endlichen Welt“: ſo iſt das dem Geiſte Gegen- übertretende bezeichnet, um auszudrücken, daß es ſich nicht blos von ſo- genannt Aeußerem, Sinnlichem handelt. Das verhüllte geiſtige Prinzip in der außermenſchlichen unorganiſchen und organiſchen Natur, das offen- bare im Menſchen nennen wir in ſeiner Allgemeinheit den Geiſt und ha- ben, indem wir ihn ſo herausziehen aus dem Einzelnen, worin er doch allein lebt und wirkt, durch dieſe nothwendige Abſtraction all das Viele, worin er eben wirkt, außer ihn hingeſtellt. Dieß Viele iſt nun nicht blos die Natur, in welcher das geiſtige Prinzip noch unbewußt ſchlummert; es ſind auch die Menſchen als die Vielen darunter befaßt: der zum Be- wußtſein ſeiner Unendlichkeit gekommene Geiſt in einem Menſchen weiß ſich als Einen mit demſelben Geiſt in den andern trotz dem Trennenden, was die Individuen ſcheidet; neben dieſes Einheitsbewußtſein fällt uns nun auch die Vielheit der menſchlichen Individuen zunächſt äußerlich ſo hin, als ob das Individuenbildende nur eine ſinnliche Kraft der Natur wäre, nicht auch aus dem Geiſte hervorgienge, welcher in der verhüllten Form blinder Nothwendigkeit der Natur Geſetze gebend innewohnt, wel- cher die Gattung in Individuen zerlegt, um eben in der Vielheit die Ein- heit dazuſtellen und ihre höheren Zwecke thätig zu erwirken, und welcher in der höchſten Gattung zu ſich kommt, bewußter Geiſt wird. Zu dem Vielen der endlichen Welt gehört ferner dem Geiſt im Menſchen gegen- über auch ſeine eigene ſinnliche Geſtalt, welche zwar die realiſirte Form des Geiſtes ſelbſt iſt, aber als Erſcheinendes in die Vielheit der Sinne, Organe ſich auseinanderlegt. Aber noch mehr: auch das Viele, das als
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Sprache doch tiefer, umfaſſender, Geiſt-offenbarender, als die ihrer ernſten,
kälteren, in ruhiger Würde der Zuſchauer gegenüber in ſich verharrenden
Schweſter.
§. 653.
Nun erſt erhellt die wahre Bedeutung des Gewinns in der Weite (§. 650).
Dem zu ſeiner Einheit und Unendlichkeit geſammelten Geiſte ſteht die Vielheit
der endlichen Welt in der Breite und Fülle ihrer Erſcheinungen ſelbſtändig ge-
genüber; die ausſchließende Zuſammenziehung der Natur und Menſchheit in ab-
ſolut ideale Weſen iſt zu Ende. Der Geiſt hat aber die Welt zu dieſer Selb-
ſtändigkeit nur entlaſſen, weil er ſie ſeiner innern Unendlichkeit gegenüber als
Endliches geſetzt hat: ebendarum greift er wieder in ſie über, umſpannt ſie,
hebt ſie in ſeine Unendlichkeit. So iſt die Malerei ebenſoſehr ausgegoſſener,
als geſammelter Geiſt, Ausdruck des in ſeiner Sammlung ausgegoſ-
ſenen und in ſeiner Ausgießung geſammelten Geiſtes.
Die „Vielheit der endlichen Welt“: ſo iſt das dem Geiſte Gegen-
übertretende bezeichnet, um auszudrücken, daß es ſich nicht blos von ſo-
genannt Aeußerem, Sinnlichem handelt. Das verhüllte geiſtige Prinzip
in der außermenſchlichen unorganiſchen und organiſchen Natur, das offen-
bare im Menſchen nennen wir in ſeiner Allgemeinheit den Geiſt und ha-
ben, indem wir ihn ſo herausziehen aus dem Einzelnen, worin er doch
allein lebt und wirkt, durch dieſe nothwendige Abſtraction all das Viele,
worin er eben wirkt, außer ihn hingeſtellt. Dieß Viele iſt nun nicht blos
die Natur, in welcher das geiſtige Prinzip noch unbewußt ſchlummert;
es ſind auch die Menſchen als die Vielen darunter befaßt: der zum Be-
wußtſein ſeiner Unendlichkeit gekommene Geiſt in einem Menſchen weiß
ſich als Einen mit demſelben Geiſt in den andern trotz dem Trennenden,
was die Individuen ſcheidet; neben dieſes Einheitsbewußtſein fällt uns
nun auch die Vielheit der menſchlichen Individuen zunächſt äußerlich ſo
hin, als ob das Individuenbildende nur eine ſinnliche Kraft der Natur
wäre, nicht auch aus dem Geiſte hervorgienge, welcher in der verhüllten
Form blinder Nothwendigkeit der Natur Geſetze gebend innewohnt, wel-
cher die Gattung in Individuen zerlegt, um eben in der Vielheit die Ein-
heit dazuſtellen und ihre höheren Zwecke thätig zu erwirken, und welcher
in der höchſten Gattung zu ſich kommt, bewußter Geiſt wird. Zu dem
Vielen der endlichen Welt gehört ferner dem Geiſt im Menſchen gegen-
über auch ſeine eigene ſinnliche Geſtalt, welche zwar die realiſirte Form
des Geiſtes ſelbſt iſt, aber als Erſcheinendes in die Vielheit der Sinne,
Organe ſich auseinanderlegt. Aber noch mehr: auch das Viele, das als
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 522. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/30>, abgerufen am 21.02.2025.
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