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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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Mittel, ein andermal falsche Reize nicht immer scheut, wogegen die Deutschen
ihre alte Schlichtheit und gesunde Wahrhaftigkeit behaupten sollen, und es
ist nicht darin die Schärfe der Charakterzeichnung und individualisirenden
Physiognomik, worin unsere Dürer und Holbein uns die wahren Muster
bleiben, an die sich namentlich Rethel so tüchtig angeschlossen hat; aber
eine Gesammtwirkung realer Auffassung und Farbenharmonie ist darin,
von welcher wir ein für allemal die Umkehr zum ächt malerischen Style
zu lernen hatten. Es war Zeit, daß wir von der Freske wieder mehr
zur Oelmalerei uns wandten. Jene wird die Trägerinn des Styles bleiben,
diese soll als Trägerinn der Lebenswahrheit ihr zur Seite gehen. Auf's
Neue stehen wir denn vor der Aufgabe wahrer Vereinigung der ent-
gegengesetzten Stylprinzipien. Das Bedenkliche ist die Bewußtheit, die in
unserer Zeit auch den Künstler beherrscht und ihm so sehr erschwert, ein-
fach in der Sache zu sein, ihn verführt, sie mit Beziehungsreichem zu
überfruchten, mit "Ideen" zu übersättigen, wenn nicht gar in ironische
Gegensätze aufzulösen. Nicht leicht sehen wir Reinheit des Styls und
haarscharfe, bis zum Beißenden eindringliche Physiognomik so vereinigt
wie in Kaulbach; aber auch jener bedenkliche Zug der Zeit ist ihm
eigen und hat ihn bis jetzt verhindert, seine bedeutenden Kräfte zu einer
ungebrochnen organischen Einheit zu verschmelzen. Fast will es mitunter
scheinen, als ob hier etwas von dem Auflösungsprozesse sich fühlbar
machen wolle, der in unserer Poesie mit Heine eingetreten ist. Allein
es gilt, gegen diesen Schein sich zu wehren und an das Tüchtige und
Große zu halten, was uns nicht fehlt und was in einem Manne wie
Kaulbach Stärke genug haben muß, das Positive und Negative in seinen
Kräften reiner zu sondern und zu ordnen.

§. 741.

Die Lücke der höheren Stoffe, welche nach Auflösung des Mythischen
bei der Besitznahme vom Boden der ursprünglichen Stoffwelt gelassen wurde,
ist ausgefüllt durch die höheren Zweige der Landschaft, des Sittenbilds, vor-
züglich aber der geschichtlichen Malerei. Zu einem schwunghaften Anbau
ist aber die letztere nach nicht gelangt.

Wir haben zuletzt mehr den Styl in's Auge gefaßt und die Stoffe,
die Zweige nur in einzelnen Bemerkungen berücksichtigt. Die Fülle
wackerer Kräfte, welche sich rings um die bestimmenden Mittelpuncte aus-
breitete und ausbreitet, konnten wir nicht nennen und schildern, da wir
hier nur das Entscheidende herauszustellen haben. In Sittenbild und
Landschaft ist das, was Epoche machte, die Schöpfung Rottmanns und

Mittel, ein andermal falſche Reize nicht immer ſcheut, wogegen die Deutſchen
ihre alte Schlichtheit und geſunde Wahrhaftigkeit behaupten ſollen, und es
iſt nicht darin die Schärfe der Charakterzeichnung und individualiſirenden
Phyſiognomik, worin unſere Dürer und Holbein uns die wahren Muſter
bleiben, an die ſich namentlich Rethel ſo tüchtig angeſchloſſen hat; aber
eine Geſammtwirkung realer Auffaſſung und Farbenharmonie iſt darin,
von welcher wir ein für allemal die Umkehr zum ächt maleriſchen Style
zu lernen hatten. Es war Zeit, daß wir von der Freske wieder mehr
zur Oelmalerei uns wandten. Jene wird die Trägerinn des Styles bleiben,
dieſe ſoll als Trägerinn der Lebenswahrheit ihr zur Seite gehen. Auf’s
Neue ſtehen wir denn vor der Aufgabe wahrer Vereinigung der ent-
gegengeſetzten Stylprinzipien. Das Bedenkliche iſt die Bewußtheit, die in
unſerer Zeit auch den Künſtler beherrſcht und ihm ſo ſehr erſchwert, ein-
fach in der Sache zu ſein, ihn verführt, ſie mit Beziehungsreichem zu
überfruchten, mit „Ideen“ zu überſättigen, wenn nicht gar in ironiſche
Gegenſätze aufzulöſen. Nicht leicht ſehen wir Reinheit des Styls und
haarſcharfe, bis zum Beißenden eindringliche Phyſiognomik ſo vereinigt
wie in Kaulbach; aber auch jener bedenkliche Zug der Zeit iſt ihm
eigen und hat ihn bis jetzt verhindert, ſeine bedeutenden Kräfte zu einer
ungebrochnen organiſchen Einheit zu verſchmelzen. Faſt will es mitunter
ſcheinen, als ob hier etwas von dem Auflöſungsprozeſſe ſich fühlbar
machen wolle, der in unſerer Poeſie mit Heine eingetreten iſt. Allein
es gilt, gegen dieſen Schein ſich zu wehren und an das Tüchtige und
Große zu halten, was uns nicht fehlt und was in einem Manne wie
Kaulbach Stärke genug haben muß, das Poſitive und Negative in ſeinen
Kräften reiner zu ſondern und zu ordnen.

§. 741.

Die Lücke der höheren Stoffe, welche nach Auflöſung des Mythiſchen
bei der Beſitznahme vom Boden der urſprünglichen Stoffwelt gelaſſen wurde,
iſt ausgefüllt durch die höheren Zweige der Landſchaft, des Sittenbilds, vor-
züglich aber der geſchichtlichen Malerei. Zu einem ſchwunghaften Anbau
iſt aber die letztere nach nicht gelangt.

Wir haben zuletzt mehr den Styl in’s Auge gefaßt und die Stoffe,
die Zweige nur in einzelnen Bemerkungen berückſichtigt. Die Fülle
wackerer Kräfte, welche ſich rings um die beſtimmenden Mittelpuncte aus-
breitete und ausbreitet, konnten wir nicht nennen und ſchildern, da wir
hier nur das Entſcheidende herauszuſtellen haben. In Sittenbild und
Landſchaft iſt das, was Epoche machte, die Schöpfung Rottmanns und

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[754/0262] Mittel, ein andermal falſche Reize nicht immer ſcheut, wogegen die Deutſchen ihre alte Schlichtheit und geſunde Wahrhaftigkeit behaupten ſollen, und es iſt nicht darin die Schärfe der Charakterzeichnung und individualiſirenden Phyſiognomik, worin unſere Dürer und Holbein uns die wahren Muſter bleiben, an die ſich namentlich Rethel ſo tüchtig angeſchloſſen hat; aber eine Geſammtwirkung realer Auffaſſung und Farbenharmonie iſt darin, von welcher wir ein für allemal die Umkehr zum ächt maleriſchen Style zu lernen hatten. Es war Zeit, daß wir von der Freske wieder mehr zur Oelmalerei uns wandten. Jene wird die Trägerinn des Styles bleiben, dieſe ſoll als Trägerinn der Lebenswahrheit ihr zur Seite gehen. Auf’s Neue ſtehen wir denn vor der Aufgabe wahrer Vereinigung der ent- gegengeſetzten Stylprinzipien. Das Bedenkliche iſt die Bewußtheit, die in unſerer Zeit auch den Künſtler beherrſcht und ihm ſo ſehr erſchwert, ein- fach in der Sache zu ſein, ihn verführt, ſie mit Beziehungsreichem zu überfruchten, mit „Ideen“ zu überſättigen, wenn nicht gar in ironiſche Gegenſätze aufzulöſen. Nicht leicht ſehen wir Reinheit des Styls und haarſcharfe, bis zum Beißenden eindringliche Phyſiognomik ſo vereinigt wie in Kaulbach; aber auch jener bedenkliche Zug der Zeit iſt ihm eigen und hat ihn bis jetzt verhindert, ſeine bedeutenden Kräfte zu einer ungebrochnen organiſchen Einheit zu verſchmelzen. Faſt will es mitunter ſcheinen, als ob hier etwas von dem Auflöſungsprozeſſe ſich fühlbar machen wolle, der in unſerer Poeſie mit Heine eingetreten iſt. Allein es gilt, gegen dieſen Schein ſich zu wehren und an das Tüchtige und Große zu halten, was uns nicht fehlt und was in einem Manne wie Kaulbach Stärke genug haben muß, das Poſitive und Negative in ſeinen Kräften reiner zu ſondern und zu ordnen. §. 741. Die Lücke der höheren Stoffe, welche nach Auflöſung des Mythiſchen bei der Beſitznahme vom Boden der urſprünglichen Stoffwelt gelaſſen wurde, iſt ausgefüllt durch die höheren Zweige der Landſchaft, des Sittenbilds, vor- züglich aber der geſchichtlichen Malerei. Zu einem ſchwunghaften Anbau iſt aber die letztere nach nicht gelangt. Wir haben zuletzt mehr den Styl in’s Auge gefaßt und die Stoffe, die Zweige nur in einzelnen Bemerkungen berückſichtigt. Die Fülle wackerer Kräfte, welche ſich rings um die beſtimmenden Mittelpuncte aus- breitete und ausbreitet, konnten wir nicht nennen und ſchildern, da wir hier nur das Entſcheidende herauszuſtellen haben. In Sittenbild und Landſchaft iſt das, was Epoche machte, die Schöpfung Rottmanns und

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 754. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/262>, abgerufen am 21.11.2024.