florentinische: der einmal gefundene Typus für diese Art des Ausdrucks wiederholt sich wie ein Götter-Ideal mit geringer Mannigfaltigkeit.
§. 723.
1.
Am Ausgange des Mittelalters ersteht aus diesen Bedingungen eine Blüthe der Malerei, welche im freien Dienste der Religion die Stoffe der- selben zur reinen Schönheit erhebt und hiemit den Bund mit derselben, während sie ihn vollendet, im Grunde, wiewohl noch nicht in der That, löst (vergl. §. 63); nur vereinzelt wird die ursprüngliche Stoffwelt, mit erwachter Sinnenfreude der 2.classische Mythus aufgenommen. Diese Blüthe schafft einen Styl, der durch das höchste Maaß der Verschmelzung mit dem ächt Malerischen, welches inner- halb der plastischen Richtung möglich ist, in ähnlicher Weise absolut und musterhaft dasteht, wie die antike Kunst, deren innige Aneignung ihm selbst zu Grunde liegt.
1. Das dialektische Verhältniß der Geschichte der Kunst zur Geschichte der Religion ist nicht nur in §. 63, der hier als Hauptstelle angeführt ist, sondern so vielfach dargestellt, daß wir hier ganz kurz sein können. Der erste Theil behandelt es auch in §. 27, zu §. 63 wird insbesondere auf die Krit. Gänge des Verf. B. 1 S. 183--187 hingewiesen, im zweiten Theil s. §. 417. 418. 464. 466; im gegenwärtigen hat zuletzt §. 695 den Gegenstand wieder aufgenommen. Nirgends so wie in der herrlichen Erscheinung des reifen Ideals der italienischen Malerei sieht man bewährt, wie die höchste Blüthe jenes Bundes bereits seine Lockerung ist. Man kann daher auch die kirchlichen Werke der großen Meister frei bewundern, ohne irgend mit ihnen und ihrer Zeit Gemeinschaft des histori- schen Glaubens an den Stoff zu haben: dieser ist rein künstlerisches Motiv geworden. Raphaels Madonnen sind die ewig schöne reine Weiblichkeit, die keusche Mutterschaft, die Mutterliebe und alle Liebe, M. Angelo's jüngstes Gericht ist die ewige Gerechtigkeit; von der Frage über die Existenz der Gegenstände, über die Möglichkeit der Thatsachen kann dabei völlig abstrahirt werden. Man meine aber ja nicht, wir wiederholen mit diesem Satze nur dasselbe, was in der Begriffslehre des Schönen von der ästhetischen Intresselosigkeit, der gegen die Existenz des Gegenstands gleich- gültigen reinen Formfreude gesagt ist, und wir widersprechen unserer Behauptung, daß die Stoffe der Kunst Gegenstände möglicher Erfahrung sein sollen. Man kann fordern, daß der Gegenstand nach Naturgesetzen möglich sei, ohne darum im Geringsten ein Interesse für seine wirkliche Existenz in Anspruch zu nehmen, man kann gegenüber einer gegebenen Kunst von dieser Forderung abstrahiren, ohne sie darum aufzugeben, ohne
florentiniſche: der einmal gefundene Typus für dieſe Art des Ausdrucks wiederholt ſich wie ein Götter-Ideal mit geringer Mannigfaltigkeit.
§. 723.
1.
Am Ausgange des Mittelalters erſteht aus dieſen Bedingungen eine Blüthe der Malerei, welche im freien Dienſte der Religion die Stoffe der- ſelben zur reinen Schönheit erhebt und hiemit den Bund mit derſelben, während ſie ihn vollendet, im Grunde, wiewohl noch nicht in der That, löst (vergl. §. 63); nur vereinzelt wird die urſprüngliche Stoffwelt, mit erwachter Sinnenfreude der 2.claſſiſche Mythus aufgenommen. Dieſe Blüthe ſchafft einen Styl, der durch das höchſte Maaß der Verſchmelzung mit dem ächt Maleriſchen, welches inner- halb der plaſtiſchen Richtung möglich iſt, in ähnlicher Weiſe abſolut und muſterhaft daſteht, wie die antike Kunſt, deren innige Aneignung ihm ſelbſt zu Grunde liegt.
1. Das dialektiſche Verhältniß der Geſchichte der Kunſt zur Geſchichte der Religion iſt nicht nur in §. 63, der hier als Hauptſtelle angeführt iſt, ſondern ſo vielfach dargeſtellt, daß wir hier ganz kurz ſein können. Der erſte Theil behandelt es auch in §. 27, zu §. 63 wird insbeſondere auf die Krit. Gänge des Verf. B. 1 S. 183—187 hingewieſen, im zweiten Theil ſ. §. 417. 418. 464. 466; im gegenwärtigen hat zuletzt §. 695 den Gegenſtand wieder aufgenommen. Nirgends ſo wie in der herrlichen Erſcheinung des reifen Ideals der italieniſchen Malerei ſieht man bewährt, wie die höchſte Blüthe jenes Bundes bereits ſeine Lockerung iſt. Man kann daher auch die kirchlichen Werke der großen Meiſter frei bewundern, ohne irgend mit ihnen und ihrer Zeit Gemeinſchaft des hiſtori- ſchen Glaubens an den Stoff zu haben: dieſer iſt rein künſtleriſches Motiv geworden. Raphaels Madonnen ſind die ewig ſchöne reine Weiblichkeit, die keuſche Mutterſchaft, die Mutterliebe und alle Liebe, M. Angelo’s jüngſtes Gericht iſt die ewige Gerechtigkeit; von der Frage über die Exiſtenz der Gegenſtände, über die Möglichkeit der Thatſachen kann dabei völlig abſtrahirt werden. Man meine aber ja nicht, wir wiederholen mit dieſem Satze nur daſſelbe, was in der Begriffslehre des Schönen von der äſthetiſchen Intreſſeloſigkeit, der gegen die Exiſtenz des Gegenſtands gleich- gültigen reinen Formfreude geſagt iſt, und wir widerſprechen unſerer Behauptung, daß die Stoffe der Kunſt Gegenſtände möglicher Erfahrung ſein ſollen. Man kann fordern, daß der Gegenſtand nach Naturgeſetzen möglich ſei, ohne darum im Geringſten ein Intereſſe für ſeine wirkliche Exiſtenz in Anſpruch zu nehmen, man kann gegenüber einer gegebenen Kunſt von dieſer Forderung abſtrahiren, ohne ſie darum aufzugeben, ohne
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[712/0220]
florentiniſche: der einmal gefundene Typus für dieſe Art des Ausdrucks
wiederholt ſich wie ein Götter-Ideal mit geringer Mannigfaltigkeit.
§. 723.
Am Ausgange des Mittelalters erſteht aus dieſen Bedingungen eine
Blüthe der Malerei, welche im freien Dienſte der Religion die Stoffe der-
ſelben zur reinen Schönheit erhebt und hiemit den Bund mit derſelben, während
ſie ihn vollendet, im Grunde, wiewohl noch nicht in der That, löst (vergl. §. 63);
nur vereinzelt wird die urſprüngliche Stoffwelt, mit erwachter Sinnenfreude der
claſſiſche Mythus aufgenommen. Dieſe Blüthe ſchafft einen Styl, der durch
das höchſte Maaß der Verſchmelzung mit dem ächt Maleriſchen, welches inner-
halb der plaſtiſchen Richtung möglich iſt, in ähnlicher Weiſe abſolut und
muſterhaft daſteht, wie die antike Kunſt, deren innige Aneignung ihm ſelbſt zu
Grunde liegt.
1. Das dialektiſche Verhältniß der Geſchichte der Kunſt zur Geſchichte
der Religion iſt nicht nur in §. 63, der hier als Hauptſtelle angeführt
iſt, ſondern ſo vielfach dargeſtellt, daß wir hier ganz kurz ſein können.
Der erſte Theil behandelt es auch in §. 27, zu §. 63 wird insbeſondere
auf die Krit. Gänge des Verf. B. 1 S. 183—187 hingewieſen, im
zweiten Theil ſ. §. 417. 418. 464. 466; im gegenwärtigen hat zuletzt
§. 695 den Gegenſtand wieder aufgenommen. Nirgends ſo wie in der
herrlichen Erſcheinung des reifen Ideals der italieniſchen Malerei ſieht
man bewährt, wie die höchſte Blüthe jenes Bundes bereits ſeine Lockerung
iſt. Man kann daher auch die kirchlichen Werke der großen Meiſter frei
bewundern, ohne irgend mit ihnen und ihrer Zeit Gemeinſchaft des hiſtori-
ſchen Glaubens an den Stoff zu haben: dieſer iſt rein künſtleriſches Motiv
geworden. Raphaels Madonnen ſind die ewig ſchöne reine Weiblichkeit,
die keuſche Mutterſchaft, die Mutterliebe und alle Liebe, M. Angelo’s
jüngſtes Gericht iſt die ewige Gerechtigkeit; von der Frage über die
Exiſtenz der Gegenſtände, über die Möglichkeit der Thatſachen kann dabei
völlig abſtrahirt werden. Man meine aber ja nicht, wir wiederholen mit
dieſem Satze nur daſſelbe, was in der Begriffslehre des Schönen von der
äſthetiſchen Intreſſeloſigkeit, der gegen die Exiſtenz des Gegenſtands gleich-
gültigen reinen Formfreude geſagt iſt, und wir widerſprechen unſerer
Behauptung, daß die Stoffe der Kunſt Gegenſtände möglicher Erfahrung
ſein ſollen. Man kann fordern, daß der Gegenſtand nach Naturgeſetzen
möglich ſei, ohne darum im Geringſten ein Intereſſe für ſeine wirkliche
Exiſtenz in Anſpruch zu nehmen, man kann gegenüber einer gegebenen
Kunſt von dieſer Forderung abſtrahiren, ohne ſie darum aufzugeben, ohne
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 712. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/220>, abgerufen am 21.02.2025.
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