Schon in der Epoche der ersten freien Regung des eigenen Geistes, der mit der byzantinischen Härte noch kämpft und sie allmählich überwindet, spaltet sich die plastische Gesammtrichtung der italienischen Malerei selbst in eine mehr plastische und eine mehr malerische und diese Spaltung verdoppelt sich, indem die floren- tinische Schule nach einer Seite zwar die erstere Richtung vertritt, nach der ander- aber wesentliche Momente des Malerischen ausbildet, wogegen die Schule von Siena die malerische Richtung vorherrschend nur im Sinne des tiefen Ausdrucks innerer Seelenschönheit verfolgt.
Wir fassen zuerst die Bestrebungen des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts bis in den Anfang des fünfzehnten in Einer Epoche zu- sammen, in der sich die zwei Abschnitte unterscheiden, die man nach Kuglers Vorgang romanischen und germanischen Styl zu nennen pflegt. Schon in dieser Epoche entwickelt die italienische Malerei den geschilderten plastischen Formsinn, dieß zeigt der erste Blick selbst auf die Mei- ster des ersten Zeitabschnitts, des dreizehnten und beginnenden vier- zehnten Jahrhunderts, auf Cimabue und Duccio von Siena. In ihnen tritt schon ein Gefühl für den Adel der Form und Bewegung, ein schwunghaftes, gemessenes Pathos, ein Fluß in den Falten durch, der uns nicht im Zweifel läßt, daß wir es hier mit einem plastisch gestimmten südlichen Volke zu thun haben, und noch bestimmter liegt dieß nicht nur bei den Florentinern, sondern auch den sanften, innigen Sienesen vor, welche im zweiten Abschnitte dieser Epoche auftreten. Der erste Abschnitt ist der Durchbruch der aus der Knospe springenden innigen, glühenden, tiefbewegten Seele des Mittelalters durch den Panzer der todten Ob- jectivität des byzantinischen Styls, dessen Riemen und Schnallen aber noch nicht abgeschüttelt werden. Die innere Kraft wird unterstützt durch jene frühen Studien der Antike und der Natur, die Nicolaus von Pisa macht und in seiner Bildhauerschule zur Anwendung bringt. Auf den Schultern vereinzelter Vorgänger tritt dann Cimabue in Florenz, Duccio di Buoninsegna in Siena auf. Man darf jenen nicht allein nach seinen Madonnen, namentlich der berühmten in S. Maria Novella, beurtheilen, worin uns bei starren, von byzantinisch spitz gebrochenem und gestricheltem Gefälte umgebenen Formen der erste Blick der Mutterliebe, Kindeszärt- lichkeit, Engels-Andacht aus den Köpfen leuchtet; die reifere Beobachtung des Menschen, der Abstufungen des Affects, edle Zeichnung, Sinn der entsprechenden Gruppirung und Composition tritt in den Fresken der oberen Franziskus-Kirche in Assisi zu Tage. Man kann jene Wärme der Empfindung und jene erste Lebendigkeit in Auffassung des Affects malerisch nennen und so den Anfang einer doppelten Spaltung, wonach
§. 721.
Schon in der Epoche der erſten freien Regung des eigenen Geiſtes, der mit der byzantiniſchen Härte noch kämpft und ſie allmählich überwindet, ſpaltet ſich die plaſtiſche Geſammtrichtung der italieniſchen Malerei ſelbſt in eine mehr plaſtiſche und eine mehr maleriſche und dieſe Spaltung verdoppelt ſich, indem die floren- tiniſche Schule nach einer Seite zwar die erſtere Richtung vertritt, nach der ander- aber weſentliche Momente des Maleriſchen ausbildet, wogegen die Schule von Siena die maleriſche Richtung vorherrſchend nur im Sinne des tiefen Ausdrucks innerer Seelenſchönheit verfolgt.
Wir faſſen zuerſt die Beſtrebungen des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts bis in den Anfang des fünfzehnten in Einer Epoche zu- ſammen, in der ſich die zwei Abſchnitte unterſcheiden, die man nach Kuglers Vorgang romaniſchen und germaniſchen Styl zu nennen pflegt. Schon in dieſer Epoche entwickelt die italieniſche Malerei den geſchilderten plaſtiſchen Formſinn, dieß zeigt der erſte Blick ſelbſt auf die Mei- ſter des erſten Zeitabſchnitts, des dreizehnten und beginnenden vier- zehnten Jahrhunderts, auf Cimabue und Duccio von Siena. In ihnen tritt ſchon ein Gefühl für den Adel der Form und Bewegung, ein ſchwunghaftes, gemeſſenes Pathos, ein Fluß in den Falten durch, der uns nicht im Zweifel läßt, daß wir es hier mit einem plaſtiſch geſtimmten ſüdlichen Volke zu thun haben, und noch beſtimmter liegt dieß nicht nur bei den Florentinern, ſondern auch den ſanften, innigen Sieneſen vor, welche im zweiten Abſchnitte dieſer Epoche auftreten. Der erſte Abſchnitt iſt der Durchbruch der aus der Knoſpe ſpringenden innigen, glühenden, tiefbewegten Seele des Mittelalters durch den Panzer der todten Ob- jectivität des byzantiniſchen Styls, deſſen Riemen und Schnallen aber noch nicht abgeſchüttelt werden. Die innere Kraft wird unterſtützt durch jene frühen Studien der Antike und der Natur, die Nicolaus von Piſa macht und in ſeiner Bildhauerſchule zur Anwendung bringt. Auf den Schultern vereinzelter Vorgänger tritt dann Cimabue in Florenz, Duccio di Buoninſegna in Siena auf. Man darf jenen nicht allein nach ſeinen Madonnen, namentlich der berühmten in S. Maria Novella, beurtheilen, worin uns bei ſtarren, von byzantiniſch ſpitz gebrochenem und geſtricheltem Gefälte umgebenen Formen der erſte Blick der Mutterliebe, Kindeszärt- lichkeit, Engels-Andacht aus den Köpfen leuchtet; die reifere Beobachtung des Menſchen, der Abſtufungen des Affects, edle Zeichnung, Sinn der entſprechenden Gruppirung und Compoſition tritt in den Fresken der oberen Franziskus-Kirche in Aſſiſi zu Tage. Man kann jene Wärme der Empfindung und jene erſte Lebendigkeit in Auffaſſung des Affects maleriſch nennen und ſo den Anfang einer doppelten Spaltung, wonach
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§. 721.
Schon in der Epoche der erſten freien Regung des eigenen Geiſtes, der mit
der byzantiniſchen Härte noch kämpft und ſie allmählich überwindet, ſpaltet ſich die
plaſtiſche Geſammtrichtung der italieniſchen Malerei ſelbſt in eine mehr plaſtiſche
und eine mehr maleriſche und dieſe Spaltung verdoppelt ſich, indem die floren-
tiniſche Schule nach einer Seite zwar die erſtere Richtung vertritt, nach der ander-
aber weſentliche Momente des Maleriſchen ausbildet, wogegen die Schule von
Siena die maleriſche Richtung vorherrſchend nur im Sinne des tiefen Ausdrucks
innerer Seelenſchönheit verfolgt.
Wir faſſen zuerſt die Beſtrebungen des dreizehnten und vierzehnten
Jahrhunderts bis in den Anfang des fünfzehnten in Einer Epoche zu-
ſammen, in der ſich die zwei Abſchnitte unterſcheiden, die man nach Kuglers
Vorgang romaniſchen und germaniſchen Styl zu nennen pflegt. Schon
in dieſer Epoche entwickelt die italieniſche Malerei den geſchilderten
plaſtiſchen Formſinn, dieß zeigt der erſte Blick ſelbſt auf die Mei-
ſter des erſten Zeitabſchnitts, des dreizehnten und beginnenden vier-
zehnten Jahrhunderts, auf Cimabue und Duccio von Siena. In
ihnen tritt ſchon ein Gefühl für den Adel der Form und Bewegung, ein
ſchwunghaftes, gemeſſenes Pathos, ein Fluß in den Falten durch, der
uns nicht im Zweifel läßt, daß wir es hier mit einem plaſtiſch geſtimmten
ſüdlichen Volke zu thun haben, und noch beſtimmter liegt dieß nicht nur
bei den Florentinern, ſondern auch den ſanften, innigen Sieneſen vor,
welche im zweiten Abſchnitte dieſer Epoche auftreten. Der erſte Abſchnitt
iſt der Durchbruch der aus der Knoſpe ſpringenden innigen, glühenden,
tiefbewegten Seele des Mittelalters durch den Panzer der todten Ob-
jectivität des byzantiniſchen Styls, deſſen Riemen und Schnallen aber
noch nicht abgeſchüttelt werden. Die innere Kraft wird unterſtützt durch
jene frühen Studien der Antike und der Natur, die Nicolaus von Piſa
macht und in ſeiner Bildhauerſchule zur Anwendung bringt. Auf den
Schultern vereinzelter Vorgänger tritt dann Cimabue in Florenz, Duccio
di Buoninſegna in Siena auf. Man darf jenen nicht allein nach ſeinen
Madonnen, namentlich der berühmten in S. Maria Novella, beurtheilen,
worin uns bei ſtarren, von byzantiniſch ſpitz gebrochenem und geſtricheltem
Gefälte umgebenen Formen der erſte Blick der Mutterliebe, Kindeszärt-
lichkeit, Engels-Andacht aus den Köpfen leuchtet; die reifere Beobachtung
des Menſchen, der Abſtufungen des Affects, edle Zeichnung, Sinn der
entſprechenden Gruppirung und Compoſition tritt in den Fresken der
oberen Franziskus-Kirche in Aſſiſi zu Tage. Man kann jene Wärme
der Empfindung und jene erſte Lebendigkeit in Auffaſſung des Affects
maleriſch nennen und ſo den Anfang einer doppelten Spaltung, wonach
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 705. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/213>, abgerufen am 05.07.2024.
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