Die Geschichte der Malerei ist ein ungleich mächtigerer, dauernderer, fruchtbarerer Kampf der zwei entgegengesetzten Stylprinzipien, als die Geschichte der Bildnerkunst. Der Gegensatz wiederholt sich in verschiedenen Wendungen mehr- fach auf beiden Seiten, jede Versöhnung fällt wieder auf eine derselben und treibt zu neuer Spaltung. Auch in dieser Kunst geht die Geschichte der Stoffe mit der Geschichte der Style Hand, und wie der Eintritt des natu- ralistrenden und individualistrenden Styls, so ist das Aufkommen der ursprüng- lichen Stoffwelt hier nicht Anfang der Auflösung, sondern neuen und volleren Lebens.
Es ist zu vergleichen, was in §. 636 über die bewegende Kraft in der Geschichte der Sculptur gesagt ist. Das Prinzip des indirecten Idealisirens reicht in dieser Kunst zwar hin, bedeutende Schwankungen und geschichtliche Veränderungen hervorzubringen, weil das entgegengesetzte Prinzip, dem die Oberherrschaft gehört, ein so zartes Richtmaaß der Schönheitslinie feststellt, daß die feinste Verstärkung nach der Seite der schärferen und naturtreueren Charakteristik schon gefühlt wird, schon Be- wegungen, Gegensätze hervorruft; allein die Schwäche des Anspruchs an Geltung, welcher der letzteren Richtung zukommt, ist eben zugleich Ursache, daß wenn dieselbe auf Grund veränderter Weltanschauung über die ihr gesetzte Grenze vordringt, die ganze Kunst nur noch ein halbgelähmtes Leben fristet. In der Malerei dagegen ist das Prinzip des indirecten Idealismus, das wir im Stylverfahren Naturalismus und Individualismus nennen, nicht mit der unbedingten Stärke zur Oberherrschaft gelangt, wie in der Plastik das entgegengesetzte; dieses, das plastische, ist trotz seiner Unterordnung, wie wir gesehen haben, ungleich mehr in Kraft, als in der Plastik das andere, das malerische, das in ihr zu untergeordneter Stellung verwiesen ist, es hat noch volle Mittel, sich zu behaupten und zu wehren, zwei gewappnete Gegner stehen sich daher gegenüber, die gerade das gegen- seitige Recht, das Gefühl der Geltung des Gegners auf beiden Seiten,
c. Die Geſchichte der Malerei.
§. 715.
Die Geſchichte der Malerei iſt ein ungleich mächtigerer, dauernderer, fruchtbarerer Kampf der zwei entgegengeſetzten Stylprinzipien, als die Geſchichte der Bildnerkunſt. Der Gegenſatz wiederholt ſich in verſchiedenen Wendungen mehr- fach auf beiden Seiten, jede Verſöhnung fällt wieder auf eine derſelben und treibt zu neuer Spaltung. Auch in dieſer Kunſt geht die Geſchichte der Stoffe mit der Geſchichte der Style Hand, und wie der Eintritt des natu- raliſtrenden und individualiſtrenden Styls, ſo iſt das Aufkommen der urſprüng- lichen Stoffwelt hier nicht Anfang der Auflöſung, ſondern neuen und volleren Lebens.
Es iſt zu vergleichen, was in §. 636 über die bewegende Kraft in der Geſchichte der Sculptur geſagt iſt. Das Prinzip des indirecten Idealiſirens reicht in dieſer Kunſt zwar hin, bedeutende Schwankungen und geſchichtliche Veränderungen hervorzubringen, weil das entgegengeſetzte Prinzip, dem die Oberherrſchaft gehört, ein ſo zartes Richtmaaß der Schönheitslinie feſtſtellt, daß die feinſte Verſtärkung nach der Seite der ſchärferen und naturtreueren Charakteriſtik ſchon gefühlt wird, ſchon Be- wegungen, Gegenſätze hervorruft; allein die Schwäche des Anſpruchs an Geltung, welcher der letzteren Richtung zukommt, iſt eben zugleich Urſache, daß wenn dieſelbe auf Grund veränderter Weltanſchauung über die ihr geſetzte Grenze vordringt, die ganze Kunſt nur noch ein halbgelähmtes Leben friſtet. In der Malerei dagegen iſt das Prinzip des indirecten Idealiſmus, das wir im Stylverfahren Naturaliſmus und Individualiſmus nennen, nicht mit der unbedingten Stärke zur Oberherrſchaft gelangt, wie in der Plaſtik das entgegengeſetzte; dieſes, das plaſtiſche, iſt trotz ſeiner Unterordnung, wie wir geſehen haben, ungleich mehr in Kraft, als in der Plaſtik das andere, das maleriſche, das in ihr zu untergeordneter Stellung verwieſen iſt, es hat noch volle Mittel, ſich zu behaupten und zu wehren, zwei gewappnete Gegner ſtehen ſich daher gegenüber, die gerade das gegen- ſeitige Recht, das Gefühl der Geltung des Gegners auf beiden Seiten,
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c.
Die Geſchichte der Malerei.
§. 715.
Die Geſchichte der Malerei iſt ein ungleich mächtigerer, dauernderer,
fruchtbarerer Kampf der zwei entgegengeſetzten Stylprinzipien, als die Geſchichte
der Bildnerkunſt. Der Gegenſatz wiederholt ſich in verſchiedenen Wendungen mehr-
fach auf beiden Seiten, jede Verſöhnung fällt wieder auf eine derſelben und
treibt zu neuer Spaltung. Auch in dieſer Kunſt geht die Geſchichte der
Stoffe mit der Geſchichte der Style Hand, und wie der Eintritt des natu-
raliſtrenden und individualiſtrenden Styls, ſo iſt das Aufkommen der urſprüng-
lichen Stoffwelt hier nicht Anfang der Auflöſung, ſondern neuen und volleren
Lebens.
Es iſt zu vergleichen, was in §. 636 über die bewegende Kraft
in der Geſchichte der Sculptur geſagt iſt. Das Prinzip des indirecten
Idealiſirens reicht in dieſer Kunſt zwar hin, bedeutende Schwankungen und
geſchichtliche Veränderungen hervorzubringen, weil das entgegengeſetzte
Prinzip, dem die Oberherrſchaft gehört, ein ſo zartes Richtmaaß der
Schönheitslinie feſtſtellt, daß die feinſte Verſtärkung nach der Seite der
ſchärferen und naturtreueren Charakteriſtik ſchon gefühlt wird, ſchon Be-
wegungen, Gegenſätze hervorruft; allein die Schwäche des Anſpruchs an
Geltung, welcher der letzteren Richtung zukommt, iſt eben zugleich Urſache,
daß wenn dieſelbe auf Grund veränderter Weltanſchauung über die ihr
geſetzte Grenze vordringt, die ganze Kunſt nur noch ein halbgelähmtes Leben
friſtet. In der Malerei dagegen iſt das Prinzip des indirecten Idealiſmus,
das wir im Stylverfahren Naturaliſmus und Individualiſmus nennen, nicht
mit der unbedingten Stärke zur Oberherrſchaft gelangt, wie in der Plaſtik
das entgegengeſetzte; dieſes, das plaſtiſche, iſt trotz ſeiner Unterordnung,
wie wir geſehen haben, ungleich mehr in Kraft, als in der Plaſtik das
andere, das maleriſche, das in ihr zu untergeordneter Stellung verwieſen
iſt, es hat noch volle Mittel, ſich zu behaupten und zu wehren, zwei
gewappnete Gegner ſtehen ſich daher gegenüber, die gerade das gegen-
ſeitige Recht, das Gefühl der Geltung des Gegners auf beiden Seiten,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 692. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/200>, abgerufen am 22.02.2025.
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