Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.c. Die Geschichte der Malerei. §. 715. Die Geschichte der Malerei ist ein ungleich mächtigerer, dauernderer, Es ist zu vergleichen, was in §. 636 über die bewegende Kraft c. Die Geſchichte der Malerei. §. 715. Die Geſchichte der Malerei iſt ein ungleich mächtigerer, dauernderer, Es iſt zu vergleichen, was in §. 636 über die bewegende Kraft <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0200" n="692"/> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">c.</hi><lb/><hi rendition="#g">Die Geſchichte der Malerei</hi>.</hi> </head><lb/> <div n="3"> <head>§. 715.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Die Geſchichte der Malerei iſt ein ungleich mächtigerer, dauernderer,<lb/> fruchtbarerer Kampf der zwei entgegengeſetzten Stylprinzipien, als die Geſchichte<lb/> der Bildnerkunſt. Der Gegenſatz wiederholt ſich in verſchiedenen Wendungen mehr-<lb/> fach auf beiden Seiten, jede Verſöhnung fällt wieder auf eine derſelben und<lb/> treibt zu neuer Spaltung. Auch in dieſer Kunſt geht die Geſchichte der<lb/><hi rendition="#g">Stoffe</hi> mit der Geſchichte der <hi rendition="#g">Style</hi> Hand, und wie der Eintritt des natu-<lb/> raliſtrenden und individualiſtrenden Styls, ſo iſt das Aufkommen der urſprüng-<lb/> lichen Stoffwelt hier nicht Anfang der Auflöſung, ſondern neuen und volleren<lb/> Lebens.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Es iſt zu vergleichen, was in §. 636 über die bewegende Kraft<lb/> in der Geſchichte der Sculptur geſagt iſt. Das Prinzip des indirecten<lb/> Idealiſirens reicht in dieſer Kunſt zwar hin, bedeutende Schwankungen und<lb/> geſchichtliche Veränderungen hervorzubringen, weil das entgegengeſetzte<lb/> Prinzip, dem die Oberherrſchaft gehört, ein ſo zartes Richtmaaß der<lb/> Schönheitslinie feſtſtellt, daß die feinſte Verſtärkung nach der Seite der<lb/> ſchärferen und naturtreueren Charakteriſtik ſchon gefühlt wird, ſchon Be-<lb/> wegungen, Gegenſätze hervorruft; allein die Schwäche des Anſpruchs an<lb/> Geltung, welcher der letzteren Richtung zukommt, iſt eben zugleich Urſache,<lb/> daß wenn dieſelbe auf Grund veränderter Weltanſchauung über die ihr<lb/> geſetzte Grenze vordringt, die ganze Kunſt nur noch ein halbgelähmtes Leben<lb/> friſtet. In der Malerei dagegen iſt das Prinzip des indirecten Idealiſmus,<lb/> das wir im Stylverfahren Naturaliſmus und Individualiſmus nennen, nicht<lb/> mit der unbedingten Stärke zur Oberherrſchaft gelangt, wie in der Plaſtik<lb/> das entgegengeſetzte; dieſes, das plaſtiſche, iſt trotz ſeiner Unterordnung,<lb/> wie wir geſehen haben, ungleich mehr in Kraft, als in der Plaſtik das<lb/> andere, das maleriſche, das in ihr zu untergeordneter Stellung verwieſen<lb/> iſt, es hat noch volle Mittel, ſich zu behaupten und zu wehren, zwei<lb/> gewappnete Gegner ſtehen ſich daher gegenüber, die gerade das gegen-<lb/> ſeitige Recht, das Gefühl der Geltung des Gegners auf beiden Seiten,<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [692/0200]
c.
Die Geſchichte der Malerei.
§. 715.
Die Geſchichte der Malerei iſt ein ungleich mächtigerer, dauernderer,
fruchtbarerer Kampf der zwei entgegengeſetzten Stylprinzipien, als die Geſchichte
der Bildnerkunſt. Der Gegenſatz wiederholt ſich in verſchiedenen Wendungen mehr-
fach auf beiden Seiten, jede Verſöhnung fällt wieder auf eine derſelben und
treibt zu neuer Spaltung. Auch in dieſer Kunſt geht die Geſchichte der
Stoffe mit der Geſchichte der Style Hand, und wie der Eintritt des natu-
raliſtrenden und individualiſtrenden Styls, ſo iſt das Aufkommen der urſprüng-
lichen Stoffwelt hier nicht Anfang der Auflöſung, ſondern neuen und volleren
Lebens.
Es iſt zu vergleichen, was in §. 636 über die bewegende Kraft
in der Geſchichte der Sculptur geſagt iſt. Das Prinzip des indirecten
Idealiſirens reicht in dieſer Kunſt zwar hin, bedeutende Schwankungen und
geſchichtliche Veränderungen hervorzubringen, weil das entgegengeſetzte
Prinzip, dem die Oberherrſchaft gehört, ein ſo zartes Richtmaaß der
Schönheitslinie feſtſtellt, daß die feinſte Verſtärkung nach der Seite der
ſchärferen und naturtreueren Charakteriſtik ſchon gefühlt wird, ſchon Be-
wegungen, Gegenſätze hervorruft; allein die Schwäche des Anſpruchs an
Geltung, welcher der letzteren Richtung zukommt, iſt eben zugleich Urſache,
daß wenn dieſelbe auf Grund veränderter Weltanſchauung über die ihr
geſetzte Grenze vordringt, die ganze Kunſt nur noch ein halbgelähmtes Leben
friſtet. In der Malerei dagegen iſt das Prinzip des indirecten Idealiſmus,
das wir im Stylverfahren Naturaliſmus und Individualiſmus nennen, nicht
mit der unbedingten Stärke zur Oberherrſchaft gelangt, wie in der Plaſtik
das entgegengeſetzte; dieſes, das plaſtiſche, iſt trotz ſeiner Unterordnung,
wie wir geſehen haben, ungleich mehr in Kraft, als in der Plaſtik das
andere, das maleriſche, das in ihr zu untergeordneter Stellung verwieſen
iſt, es hat noch volle Mittel, ſich zu behaupten und zu wehren, zwei
gewappnete Gegner ſtehen ſich daher gegenüber, die gerade das gegen-
ſeitige Recht, das Gefühl der Geltung des Gegners auf beiden Seiten,
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