Der Eintheilung des Gebiets der Malerei in Zweige ist das Mythen-1. bild gesondert voranzustellen, denn es vertritt sie, ehe sie entwickelt sind, alle, die Keime von allen und theilweise auch die näheren Unterschiede, in welche jeder selbständige Zweig sich spaltet, treten in ihm hervor. Nachdem die Zweige erwachsen sind, besteht es nur durch eine Tautologie neben ihnen fort und er- scheint vermöge einer Verkennung des logischen Verhältnisses (vergl. §. 25) als eine zweite, höhere Art der sogenannten Historienmalerei. Seine bedeutendste2. Stütze hat das Fortleben der zweiten Stoffwelt in einem bleibenden Bedürfnisse der auf das allgemein Menschliche gerichteten Phantasie, sich an Mythisches anzulehnen.
1. Der §. wiederholt im Wesentlichen nur, was schon mehr, als ein- mal, auseinandergesetzt und worüber §. 24. 25. 62. 417. 418. 541. noth- wendig zu vergleichen ist; insbesondere zeigt bereits §. 25 die hier wieder zur Sprache gebrachte logische Verwirrung auf. Diese Wiederholung ist da- durch gefordert, daß die Malerei die erste Kunstform ist, in welcher Alles bisher nur im Allgemeinen Aufgestellte zum erstenmal in volle Anschau- lichkeit und Anwendung tritt, eigentlich praktisch wird. In der Sculptur sahen wir das Mythische so durchaus berechtigt, daß durch dasselbe die ganze Zweige-Eintheilung durchbrochen wurde (vergl. 630. 631); die Malerei dagegen ist, wie dieß zu §. 674 und 683 und sonst mehrfach schon ausgesprochen wurde, ihrem ganzen Wesen nach darauf gerichtet, das Mythische vielmehr auszuscheiden, denn sie gibt ein ganzes und volles Bild des Lebens im Umfange seiner realen Bedingungen, sie spricht die Idee als die innere Seele dieses festen Zusammenhangs selbst aus und muß daher, wo sie zum Bewußtsein ihrer Aufgabe gelangt ist, auch begreifen, daß sie dieselbe nicht außer diesen Zusammenhang transcendent hinstellen darf, um sie in denselben von außen wieder hereinbrechen zu lassen. Ihr innerster Geist ist der der Immanenz. Besteht nun trotzdem die Transcendenz, der Anbau der zweiten Stoffwelt auch in dieser Kunst fort, nachdem dieselbe
b. Die Zweige der Malerei.
§. 695.
Der Eintheilung des Gebiets der Malerei in Zweige iſt das Mythen-1. bild geſondert voranzuſtellen, denn es vertritt ſie, ehe ſie entwickelt ſind, alle, die Keime von allen und theilweiſe auch die näheren Unterſchiede, in welche jeder ſelbſtändige Zweig ſich ſpaltet, treten in ihm hervor. Nachdem die Zweige erwachſen ſind, beſteht es nur durch eine Tautologie neben ihnen fort und er- ſcheint vermöge einer Verkennung des logiſchen Verhältniſſes (vergl. §. 25) als eine zweite, höhere Art der ſogenannten Hiſtorienmalerei. Seine bedeutendſte2. Stütze hat das Fortleben der zweiten Stoffwelt in einem bleibenden Bedürfniſſe der auf das allgemein Menſchliche gerichteten Phantaſie, ſich an Mythiſches anzulehnen.
1. Der §. wiederholt im Weſentlichen nur, was ſchon mehr, als ein- mal, auseinandergeſetzt und worüber §. 24. 25. 62. 417. 418. 541. noth- wendig zu vergleichen iſt; insbeſondere zeigt bereits §. 25 die hier wieder zur Sprache gebrachte logiſche Verwirrung auf. Dieſe Wiederholung iſt da- durch gefordert, daß die Malerei die erſte Kunſtform iſt, in welcher Alles bisher nur im Allgemeinen Aufgeſtellte zum erſtenmal in volle Anſchau- lichkeit und Anwendung tritt, eigentlich praktiſch wird. In der Sculptur ſahen wir das Mythiſche ſo durchaus berechtigt, daß durch daſſelbe die ganze Zweige-Eintheilung durchbrochen wurde (vergl. 630. 631); die Malerei dagegen iſt, wie dieß zu §. 674 und 683 und ſonſt mehrfach ſchon ausgeſprochen wurde, ihrem ganzen Weſen nach darauf gerichtet, das Mythiſche vielmehr auszuſcheiden, denn ſie gibt ein ganzes und volles Bild des Lebens im Umfange ſeiner realen Bedingungen, ſie ſpricht die Idee als die innere Seele dieſes feſten Zuſammenhangs ſelbſt aus und muß daher, wo ſie zum Bewußtſein ihrer Aufgabe gelangt iſt, auch begreifen, daß ſie dieſelbe nicht außer dieſen Zuſammenhang tranſcendent hinſtellen darf, um ſie in denſelben von außen wieder hereinbrechen zu laſſen. Ihr innerſter Geiſt iſt der der Immanenz. Beſteht nun trotzdem die Tranſcendenz, der Anbau der zweiten Stoffwelt auch in dieſer Kunſt fort, nachdem dieſelbe
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b.
Die Zweige der Malerei.
§. 695.
Der Eintheilung des Gebiets der Malerei in Zweige iſt das Mythen-
bild geſondert voranzuſtellen, denn es vertritt ſie, ehe ſie entwickelt ſind, alle,
die Keime von allen und theilweiſe auch die näheren Unterſchiede, in welche
jeder ſelbſtändige Zweig ſich ſpaltet, treten in ihm hervor. Nachdem die Zweige
erwachſen ſind, beſteht es nur durch eine Tautologie neben ihnen fort und er-
ſcheint vermöge einer Verkennung des logiſchen Verhältniſſes (vergl. §. 25) als
eine zweite, höhere Art der ſogenannten Hiſtorienmalerei. Seine bedeutendſte
Stütze hat das Fortleben der zweiten Stoffwelt in einem bleibenden Bedürfniſſe
der auf das allgemein Menſchliche gerichteten Phantaſie, ſich an Mythiſches
anzulehnen.
1. Der §. wiederholt im Weſentlichen nur, was ſchon mehr, als ein-
mal, auseinandergeſetzt und worüber §. 24. 25. 62. 417. 418. 541. noth-
wendig zu vergleichen iſt; insbeſondere zeigt bereits §. 25 die hier wieder
zur Sprache gebrachte logiſche Verwirrung auf. Dieſe Wiederholung iſt da-
durch gefordert, daß die Malerei die erſte Kunſtform iſt, in welcher Alles
bisher nur im Allgemeinen Aufgeſtellte zum erſtenmal in volle Anſchau-
lichkeit und Anwendung tritt, eigentlich praktiſch wird. In der Sculptur
ſahen wir das Mythiſche ſo durchaus berechtigt, daß durch daſſelbe die
ganze Zweige-Eintheilung durchbrochen wurde (vergl. 630. 631); die
Malerei dagegen iſt, wie dieß zu §. 674 und 683 und ſonſt mehrfach
ſchon ausgeſprochen wurde, ihrem ganzen Weſen nach darauf gerichtet,
das Mythiſche vielmehr auszuſcheiden, denn ſie gibt ein ganzes und volles
Bild des Lebens im Umfange ſeiner realen Bedingungen, ſie ſpricht die Idee
als die innere Seele dieſes feſten Zuſammenhangs ſelbſt aus und muß
daher, wo ſie zum Bewußtſein ihrer Aufgabe gelangt iſt, auch begreifen, daß
ſie dieſelbe nicht außer dieſen Zuſammenhang tranſcendent hinſtellen darf, um
ſie in denſelben von außen wieder hereinbrechen zu laſſen. Ihr innerſter
Geiſt iſt der der Immanenz. Beſteht nun trotzdem die Tranſcendenz,
der Anbau der zweiten Stoffwelt auch in dieſer Kunſt fort, nachdem dieſelbe
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 637. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/145>, abgerufen am 05.07.2024.
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