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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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Werth haben mag, vom ästhetischen Standpunkt aber als falsche Art der
Naturnachahmung halb unheimlich, halb lächerlich ist (Automaten). Es
tritt zu der Abstraction von der Farbe nun eine zweite, die von der Be-
wegung. Aber nicht in demselben Sinne wird von der Bewegung ab-
strahirt, wie von der Farbe. Diese wird in der Anschauung nicht, we-
nigstens nicht als wesentlich mitwiegend, aufgefaßt und sie könnte nach-
geahmt werden, wird es aber nicht, wenigstens von einer reifen Kunst
höchstens als bloßer Anflug; die zweite wird, in gewisser Beschränkung
auf die größeren Bewegungen, wie sich zeigen wird, als ganz wesentlich
miterfaßt, denn der lebendige Leib ist eben der sich bewegende, sie kann
aber, außer durch völligen Abfall in mechanisches Spiel, schlechterdings
nicht nachgeahmt werden. Sie fällt aber darum in der Nachahmung nicht
in der Weise weg, wie die Farbe, sondern eine ganz eigenthümliche Ver-
bindung von Raum und Zeit tritt ein. Dargestellt wird ein Bewegtes;
in dieser Darstellung kann es sich nicht wirklich bewegen, d. h. nicht meh-
rere Bewegungsmomente durchlaufen, aber ein Moment der Bewegung
wird dargestellt und zwar auch in der ruhenden Gestalt, denn sie muß er-
scheinen als eine solche, die sich bewegen kann, muß, will, die sich bewegt hat
und wieder bewegen wird, und ob auch die Ruhe zwischen zwei Bewegungen
länger andauert, als einen Moment im buchstäblichen Sinne, dieß thut hier
nichts zur Sache. In diesem Moment ist die sich bewegende Gestalt ver-
steinert worden; sie ist so zu sagen aus dem wirklichen Leben und aus
der es spiegelnden Phantasie des Künstlers, wo sie ein Zeitleben fort-
dauernder Bewegung führte, in einen bewegungslosen Raum hereinge-
sprungen und im Nu verzaubert worden, wie sie eben war. Eigentlich
ein märchenartiger Vorgang, das Schicksal Dornröschens; der Königssohn
ist die Phantasie des Zuschauers, in welcher auch hier das Bewegungs-
lose auflebt, aber wir verfolgen in der erst allgemeinen Aufstellung der
Hauptbegriffe diese Seite noch so wenig, als die näheren Gesetze, welche
sich aus dieser wunderbaren Combination von Raum und Zeit, dieser be-
wegten Unbewegtheit oder unbewegten Bewegtheit für den Künstler ergeben.

2. Das Ueberspringen der Landschaft, schon zu §. 597 angedeutet,
ist nun genauer in's Auge zu fassen. Das landschaftlich Schöne trat in
der Lehre vom Naturschönen vor der (thierischen und) menschlichen
Schönheit auf; da in dieser die Idee in voller Gegenwart sich adäquate
Erscheinung gibt, so steht sie natürlich oben auf der Leiter und jene, weil
sie nur dämmernde Spuren und Vorbilder des Geistes darstellt, unten
als Anfangssprosse. Man sollte nun meinen, die Kunst, wo sie den
Schritt zur Nachbildung concreten Lebens vollzieht, werde zuerst diese
erste Stufe des Naturschönen als Stoff ergreifen. Dagegen ist schon zu
§. 404 Th. I. S. 380 von dem tastenden Auge ausgesagt, daß die auf

Werth haben mag, vom äſthetiſchen Standpunkt aber als falſche Art der
Naturnachahmung halb unheimlich, halb lächerlich iſt (Automaten). Es
tritt zu der Abſtraction von der Farbe nun eine zweite, die von der Be-
wegung. Aber nicht in demſelben Sinne wird von der Bewegung ab-
ſtrahirt, wie von der Farbe. Dieſe wird in der Anſchauung nicht, we-
nigſtens nicht als weſentlich mitwiegend, aufgefaßt und ſie könnte nach-
geahmt werden, wird es aber nicht, wenigſtens von einer reifen Kunſt
höchſtens als bloßer Anflug; die zweite wird, in gewiſſer Beſchränkung
auf die größeren Bewegungen, wie ſich zeigen wird, als ganz weſentlich
miterfaßt, denn der lebendige Leib iſt eben der ſich bewegende, ſie kann
aber, außer durch völligen Abfall in mechaniſches Spiel, ſchlechterdings
nicht nachgeahmt werden. Sie fällt aber darum in der Nachahmung nicht
in der Weiſe weg, wie die Farbe, ſondern eine ganz eigenthümliche Ver-
bindung von Raum und Zeit tritt ein. Dargeſtellt wird ein Bewegtes;
in dieſer Darſtellung kann es ſich nicht wirklich bewegen, d. h. nicht meh-
rere Bewegungsmomente durchlaufen, aber ein Moment der Bewegung
wird dargeſtellt und zwar auch in der ruhenden Geſtalt, denn ſie muß er-
ſcheinen als eine ſolche, die ſich bewegen kann, muß, will, die ſich bewegt hat
und wieder bewegen wird, und ob auch die Ruhe zwiſchen zwei Bewegungen
länger andauert, als einen Moment im buchſtäblichen Sinne, dieß thut hier
nichts zur Sache. In dieſem Moment iſt die ſich bewegende Geſtalt ver-
ſteinert worden; ſie iſt ſo zu ſagen aus dem wirklichen Leben und aus
der es ſpiegelnden Phantaſie des Künſtlers, wo ſie ein Zeitleben fort-
dauernder Bewegung führte, in einen bewegungsloſen Raum hereinge-
ſprungen und im Nu verzaubert worden, wie ſie eben war. Eigentlich
ein märchenartiger Vorgang, das Schickſal Dornröschens; der Königsſohn
iſt die Phantaſie des Zuſchauers, in welcher auch hier das Bewegungs-
loſe auflebt, aber wir verfolgen in der erſt allgemeinen Aufſtellung der
Hauptbegriffe dieſe Seite noch ſo wenig, als die näheren Geſetze, welche
ſich aus dieſer wunderbaren Combination von Raum und Zeit, dieſer be-
wegten Unbewegtheit oder unbewegten Bewegtheit für den Künſtler ergeben.

2. Das Ueberſpringen der Landſchaft, ſchon zu §. 597 angedeutet,
iſt nun genauer in’s Auge zu faſſen. Das landſchaftlich Schöne trat in
der Lehre vom Naturſchönen vor der (thieriſchen und) menſchlichen
Schönheit auf; da in dieſer die Idee in voller Gegenwart ſich adäquate
Erſcheinung gibt, ſo ſteht ſie natürlich oben auf der Leiter und jene, weil
ſie nur dämmernde Spuren und Vorbilder des Geiſtes darſtellt, unten
als Anfangsſproſſe. Man ſollte nun meinen, die Kunſt, wo ſie den
Schritt zur Nachbildung concreten Lebens vollzieht, werde zuerſt dieſe
erſte Stufe des Naturſchönen als Stoff ergreifen. Dagegen iſt ſchon zu
§. 404 Th. I. S. 380 von dem taſtenden Auge ausgeſagt, daß die auf

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[347/0021] Werth haben mag, vom äſthetiſchen Standpunkt aber als falſche Art der Naturnachahmung halb unheimlich, halb lächerlich iſt (Automaten). Es tritt zu der Abſtraction von der Farbe nun eine zweite, die von der Be- wegung. Aber nicht in demſelben Sinne wird von der Bewegung ab- ſtrahirt, wie von der Farbe. Dieſe wird in der Anſchauung nicht, we- nigſtens nicht als weſentlich mitwiegend, aufgefaßt und ſie könnte nach- geahmt werden, wird es aber nicht, wenigſtens von einer reifen Kunſt höchſtens als bloßer Anflug; die zweite wird, in gewiſſer Beſchränkung auf die größeren Bewegungen, wie ſich zeigen wird, als ganz weſentlich miterfaßt, denn der lebendige Leib iſt eben der ſich bewegende, ſie kann aber, außer durch völligen Abfall in mechaniſches Spiel, ſchlechterdings nicht nachgeahmt werden. Sie fällt aber darum in der Nachahmung nicht in der Weiſe weg, wie die Farbe, ſondern eine ganz eigenthümliche Ver- bindung von Raum und Zeit tritt ein. Dargeſtellt wird ein Bewegtes; in dieſer Darſtellung kann es ſich nicht wirklich bewegen, d. h. nicht meh- rere Bewegungsmomente durchlaufen, aber ein Moment der Bewegung wird dargeſtellt und zwar auch in der ruhenden Geſtalt, denn ſie muß er- ſcheinen als eine ſolche, die ſich bewegen kann, muß, will, die ſich bewegt hat und wieder bewegen wird, und ob auch die Ruhe zwiſchen zwei Bewegungen länger andauert, als einen Moment im buchſtäblichen Sinne, dieß thut hier nichts zur Sache. In dieſem Moment iſt die ſich bewegende Geſtalt ver- ſteinert worden; ſie iſt ſo zu ſagen aus dem wirklichen Leben und aus der es ſpiegelnden Phantaſie des Künſtlers, wo ſie ein Zeitleben fort- dauernder Bewegung führte, in einen bewegungsloſen Raum hereinge- ſprungen und im Nu verzaubert worden, wie ſie eben war. Eigentlich ein märchenartiger Vorgang, das Schickſal Dornröschens; der Königsſohn iſt die Phantaſie des Zuſchauers, in welcher auch hier das Bewegungs- loſe auflebt, aber wir verfolgen in der erſt allgemeinen Aufſtellung der Hauptbegriffe dieſe Seite noch ſo wenig, als die näheren Geſetze, welche ſich aus dieſer wunderbaren Combination von Raum und Zeit, dieſer be- wegten Unbewegtheit oder unbewegten Bewegtheit für den Künſtler ergeben. 2. Das Ueberſpringen der Landſchaft, ſchon zu §. 597 angedeutet, iſt nun genauer in’s Auge zu faſſen. Das landſchaftlich Schöne trat in der Lehre vom Naturſchönen vor der (thieriſchen und) menſchlichen Schönheit auf; da in dieſer die Idee in voller Gegenwart ſich adäquate Erſcheinung gibt, ſo ſteht ſie natürlich oben auf der Leiter und jene, weil ſie nur dämmernde Spuren und Vorbilder des Geiſtes darſtellt, unten als Anfangsſproſſe. Man ſollte nun meinen, die Kunſt, wo ſie den Schritt zur Nachbildung concreten Lebens vollzieht, werde zuerſt dieſe erſte Stufe des Naturſchönen als Stoff ergreifen. Dagegen iſt ſchon zu §. 404 Th. I. S. 380 von dem taſtenden Auge ausgeſagt, daß die auf

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/21>, abgerufen am 26.04.2024.